Der Fluch des Verächters - Covenant 01
Tränen und das Leid in ihren Augen zur Kenntnis. Innerlich fühlte er sich vom Übermaß an Schmerz, Kummer und sinnloser Wut wie betäubt, und zudem begriff er nicht, warum sie sich schuldig fühlte. Er bückte sich nach dem Stab, dann nahm er sie am Arm und richtete sie auf. Benommen führte er sie davon durch die Nacht, bis sie ihr ganzes Elend ausgeweint hatte und wieder ohne Unterstützung stehen und gehen konnte. Er hätte gerne auch geweint, aber im Laufe seines langwierigen Ringens mit den Leiden eines Leprakranken hatte er völlig vergessen, wie man das schaffte, und daher war er nun zu nichts anderem imstande als zum Weitergehen, immer weiterzugehen. Er merkte nur noch, daß Atiaran irgendwann ihre Selbstbeherrschung wiedererlangte und von ihm abrückte, ihm irgendeinen Vorwurf machte. Während dieser schlaflosen Nacht auf ihrer Wanderung nach Norden brachte er es nicht fertig, sich auch noch damit zu befassen.
11
Die Entwurzelten
Ganz allmählich wie mit Schlurfschritten verzog sich die Nacht, als trotte sie verdutzt und ziellos in den bewölkten neuen Tag hinein, um langsam darin aufzugehen; sie hinkte durchs Niemandsland des Wechsels, als ließe sich nicht feststellen, wo die Einöde aus Finsternis endete und wo die Aschen des Lichts begannen. Die niedrigen Wolken schienen sich zu grämen – wirkten verkrampft und mißbehaglich aus angesammeltem Kummer – und doch teilnahmslos zu bleiben, außerstande zum Regnen, als sei selbst die Luft zu angespannt, um Tränen zu vergießen. Und durchs Morgengrauen stapften schwerfällig Atiaran und Covenant, ungefüge und ungleich wie Teile eines zerbrochenen Grabsteins.
Der Anbruch des Tages bedeutete für sie keinen Unterschied, änderte nichts an ihrer Flucht – auf der sie nicht länger Schrecken plagte, denn was sie an Furcht und Entsetzen zu empfinden vermochten, war mittlerweile erschöpft – nach Norden. Tag und Nacht waren nichts als Hüllen, buntscheckige Verkleidungen des Schattens, der fortwährend auf dem Herzen des Landes lag. Wieviel Schaden dies Herz genommen hatte, konnten sie nicht einmal erahnen. Einen gewissen Eindruck davon erhielten sie durchs Maß ihres eigenen Schmerzes; und so wanderten sie in der langen, unheilvollen Nacht und dem ebensolchen Tag, welche der Beschmutzung der Frühlingsfestlichkeit folgten, nur in der freudlosen Erinnerung an ihr furchtbares Erlebnis dahin, allem anderen gegenüber unempfänglich, als wären sogar Hunger, Durst und Müdigkeit in ihnen für immer erloschen. Am darauffolgenden Abend gelangten ihre Leiber an die Grenze ihrer Belastbarkeit, und sie versanken blindlings in abgrundtiefen Schlaf, nicht länger überhaupt dazu in der Lage, sich dafür zu interessieren, ob ihnen Verfolger nachstellten und welche. Während sie schliefen, entlud der Himmel zumindest ein wenig seiner angestauten Spannung. Bläuliche Blitze fuhren auf die Hügel nieder; der Donner klang wie Stöhnen nach lange unterdrückter Qual. Als die Reisenden wieder erwachten, schien über ihren Häuptern schon die Sonne, und ihre Kleidung war vom nächtlichen Regen durchnäßt. Aber Sonnenschein und Morgenfrische konnten ihre verwundeten Seelen nicht heilen.
Sie rafften sich so mühsam empor auf die Beine, als wären sie klamme, untote Leichname; sie aßen Aliantha , tranken aus einem Bach, dann stolperten sie weiter, als wären sie lebendigen Leibes von Totenstarre befallen.
Dennoch unternahmen Zeit, Aliantha und die köstliche, andelainische Luft ihre Wiederbelebungsversuche auf die Dauer nicht vergeblich. Allmählich regten sich Covenants Gedanken wieder; das stumpfsinnige Grauen, die Nachwirkung des Gemetzels, schwand langsam, wich in seinem Innern einer herkömmlicheren Art von Pein. Covenant, hilf ihnen! hörte er Atiaran rufen; und die Erinnerung daran brachte sein Blut aus lauter Hilflosigkeit zum Schäumen. Die Geister, die Geister , winselte er lautlos vor sich hin, undeutlich wie aus der Entfernung, eine Folge des Abstands zu unangenehmen Erinnerungen. So wunderschön waren sie gewesen – und er hatte sie nicht retten können. Atiaran jedoch hatte ihn für dazu imstande gehalten, sie zu retten; sie erwartete von ihm irgendeine Anwendung irgendeiner Macht – genau wie Lena, Baradakas und alle anderen, denen er hier begegnete, sah sie in ihm den wiedergeborenen Berek Halbhand, den Herrn wilder Magie. Du hast nun viel Macht , hatte der Verächter gesagt. Aber du wirst sie niemals richtig begreifen. Und tatsächlich
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