Der Fluch vom Valle della Luna
eigentlich, alles beim Alten. Arbeit gibt’s genug, es wird sogar mehr, und ...« Sie brach ab, als sie seinen scheelen Blick bemerkte. »Okay, okay ... Ich find’s blöd, allein zu sein, wenn es das ist, was du wissen wolltest. Du fehlst mir, und Carlo fehlt mir auch. Aber so ist das Leben, nicht wahr? Ich komme zurecht. So schaut’s aus.« Mit Tanos tatkräftiger Unterstützung.
Sie senkte die Lider, damit ihre Augen nichts von ihren Treffen mit Tano verrieten, und auch, um die Traurigkeit ihres Sohnes nicht zu sehen.
»Vielleicht hätte ich nicht fortgehen sollen«, murmelte er. »Durchs Abhauen kriegt man seine Probleme auch nicht gelöst. Man rennt und rennt, aber innerlich bleibt man doch immer man selbst.« Er lächelte schief. Sie wollte gerade etwas nicht allzu Plattes erwidern, als ihr Handy klingelte. Tanos Dienstnummer? Seine Stimme traf sie fast schmerzhaft in diesem vertraulichen Moment mit ihrem Sohn.
»Hör mal, Nelly, es tut mir leid, dass ich dir ausgerechnet an deinem freien Tag auf die Nerven fallen muss. Du brauchst auch nicht zu kommen, Marco ist da, und vielleicht kann ich auch Lojacono anheuern ...« Auf keinen Fall Lojacono!
»Wärst du so freundlich, mich ins Bild zu setzen, worum es geht?« Ihre Stimme klang heiser.
»Marilena Pizzi ist verschwunden. Sie ist gestern Abend in Novi losgefahren, aber nie zu Hause angekommen. Ihr Wagen ist ausgebrannt im Flussbett des Scrivia gefunden worden.«
»Ich komme.« »Schade, so ein schönes Auto.«
Mit echtem Bedauern betrachtete Gerolamo das noch qualmende Gerippe des BMW Z4 Coupé, das im Kiesbett des Scrivia stand. Der Wagen war über eine unbefestigte Straße zu einem Vorsprung gebracht worden, von dem aus man ihn angezündet und hinuntergestoßen hatte, oder vielleicht war er auch von selbst in Flammen aufgegangen. Das würde die Spurensicherung klären, die sich wie eine Schar eifriger Gespenster am Tatort zu schaffen machte. Nelly stand da und antwortete nicht. Ein leichter Nebel stieg auf. Die Nachricht von Marilenas Verschwinden hatte ihr einen Schlag versetzt und ihr die wenigen Karten, die sie über die Familie zu haben glaubte, endgültig aus der Hand gerissen. Sie überlegte laut:
»Also, fangen wir ganz am Anfang an: In Luras, einem Dorf der Gallura, bringt in den vierziger Jahren Samuele Pisu seinen Bruder Rodolfo um, um an das Erbe zu kommen und seine Schulden zu bezahlen, wobei er gemeinsame Sache mit dem Notar Secci macht. Jahre später bringt Samueles Sohn Giacomo den unbequemen Vater um oder lässt ihn umbringen, weil der noch immer ein unverbesserlicher Spieler ist und das Familienvermögen verpulvert. Wir springen in die sechziger Jahre. Der Mustersohn hat inzwischen Lorenza Secci geheiratet und angefangen, mit ihren Brüdern Giosué und Giovanni Geschäfte zu machen, Spezialgebiet Entführungen. Für die Drecksarbeit heuern sie Gavino und Panni Sogos an und vielleicht noch andere. Die letzte Entführung der kleinen Simon-Tochter geht schief, und Giacomo macht sich mit der Kohle Richtung Festland aus dem Staub. Szenenwechsel, vom ländlich-rückständigen Sardinien in das boomende Nachkriegs-Genua. Das wäre für einen betrogenen Komplizen der Moment, ihn aufzuspüren und ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Doch es passiert nichts, und unser Freund wird ein reicher Bauunternehmer. Plötzlich, nach vierzig Jahren, wird er von einem Unbekannten überfahren, und kurz darauf sterben seine Söhne. Auch sein Enkel wird zum Opfer – möglicherweise Opfer seiner selbst, aber er nimmt dennoch ein schlimmes Ende. Eine Art Rache oder Fluch mit verspäteter Zündung. S’ogu malu , der böse Blick, wie Boboi Sogos angedeutet hat? Oder steckt da etwas anderes hinter?«
»Der böse Blick, der bisher nur die männlichen Familienmitglieder getroffen hat«, vervollständigte Marco, der sich zu ihnen gesellt und ihre Zusammenfassung mit angehört hatte. Nelly nickte.
»Und jetzt? Der oder die Rächer haben beschlossen, die ganze Sippe auszulöschen, oder ...«
»Oder diese Entführung hat nichts mit dem Rest der Geschichte zu tun. Irgendjemand weiß, dass die Pizzi einen Haufen Schotter hat, und will sich ein bisschen was davon abzwacken.«
»Na, so ein Zufall! Ein Unglück kommt selten allein, oder was?« Nelly schüttelte skeptisch den Kopf. »Dann schon eher eine historische Vergeltung. Die Tochter des Entführers entführt ...«
Marco zuckte mit den Achseln und sah sie an.
»Diese Geschichte ist das reinste Luftschloss, meine
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