Der Fluch vom Valle della Luna
Tränen und von Marco Auteris starkem Arm gehalten, der inzwischen zu ihrem Vollzeitbeschützer avanciert war. Dann war da noch Dottor Sanmarco in einem nüchternen grauen Anzug mit violett gestreiftem Hemd. Sein elastischer Schritt ließ ihn viel jünger wirken als siebzig. Er hatte Nelly gesehen und ihr zugenickt. Den Abschluss des kleinen Trauerzuges bildete die wie immer verstimmte Celeste, die für Nelly nur einen vorwurfsvollen Blick übrig hatte. Als könnte ich etwas für den Tod der Alten. Dabei ist es letztendlich eine Befreiung, nicht nur für sie, sondern auch für Magraja. Magraja ist jetzt wirklich frei.
Gedankenverloren war Nelly mit den anderen an der Familiengruft angekommen, deren Tür abermals weit offen stand, um nach Mann, Söhnen und Enkel nun die Mutter aufzunehmen. Nelly bemerkte, dass Anselmos Witwe fehlte. Womöglich war sie noch in der Entzugsklinik. Sie musste an die erste Beisetzung denken, an jenem eisigen Tag an Tanos Arm. An ihren Eindruck, selbst anstelle des Toten in dem Sarg zu liegen, den ihr labiles Gemüt ihr vorgegaukelt hatte. Einzig die Geräusche der Bestatter durchbrachen die beklemmende Stille. Sandra trat von einem Fuß auf den anderen und betrachtete die Kränze und Blumenkissen, deren Anzahl sehr viel spärlicher ausfiel als bei den anderen Familienmitgliedern. Auf den Bändern die üblichen Sprüche. Auch Nelly ließ ihren Blick zum Zeitvertreib über die Trauergebinde gleiten. Plötzlich blieb sie an einem hängen. Moment mal, exakt das gleiche hatte sie schon bei der vorherigen Beisetzung gesehen. Und bei der davor auch, und bei der davor ebenfalls. Bei Giacomos Beisetzung war sie nicht gewesen, doch womöglich hatte es auch dort ein solches gegeben. Sie besah sich den Kranz genauer. Er war recht klein und bescheiden, doch die Blumen waren besonders: gelbe und rote Nelken, nicht weiter außergewöhnlich, wären da nicht in der Mitte diese schwarzen Blüten gewesen. Nelly betrachtete sie stirnrunzelnd. Es war Mohn. Schwarzer Mohn. Die schwarze Schleife war goldumrandet, eine typische Trauerschleife, und darauf nur zwei Buchstaben: O. M. Das konnte für alles Mögliche stehen, Oreste Mususmeci, Oscar Menarini, Ofelia Mammasantissima. Es konnte jedoch auch ogu malu bedeuten. Nelly durchlief ein Schauder, der Sandra nicht entging.
»Was ist los, Nelly? Hast du ein Gespenst gesehen?«.
Zu ihrem Schrecken nickte Nelly, ohne sie anzusehen.
XVII
Die von Valeria und Gerolamo unternommene Gespensterjagd – so hatte Nelly sie seit der Entdeckung des seltsamen Kranzes auf Lorenza Pisus Beisetzung genannt – hatte sich als lang und fruchtlos erwiesen. Mit Hilfe von Valerias Computer und Gerolamos Streifzügen durch die Stadt hatten sie jeden Floristen in Genua und Umgebung unter die Lupe genommen, um herauszufinden, wer die Kränze bestellt hatte. Doch O. M., zu dem auch Magraja, Romeo Pizzi, Serena und Susanna befragt worden waren, war namenlos geblieben. Kaum einer hatte sich für die Kränze und Blumenkissen interessiert, die zu den Beisetzungen geschickt worden waren, sie hatten allenfalls überprüft, ob die von ihnen bestellten Trauergebinde ihren Wünschen entsprachen. Für sämtliche männliche Pisus, Giancarlo ausgenommen, hatte es eine Flut der unterschiedlichsten Kränze und Kissen gegeben, und so war das seltsame Arrangement mit den Initialen niemandem aufgefallen.
Jetzt war die Jagd zu Ende. Zum zweiten Mal las Nelly die Ergebnisse und verspürte eine ohnmächtige Wut. Du elende Drecksau! Du bist wirklich gerissen. Die Kränze waren jedes Mal bei einem anderen Floristen bestellt worden. Telefonisch. Anscheinend von derselben Männerstimme. Und sie waren von verschiedenen Personen bezahlt worden. Im ersten Fall, der Beisetzung Giacomos – ja, Valeria war auch diesem allerersten Kranz auf die Spur gekommen –, von einer Hausfrau. Einer gewissen Maria Teresa Vassallo. Bei Anselmo von einem Rentner. Aleramo Rossi. Alceos Kranz war von einem Kurzarbeiter namens Lodovico Aste gezahlt worden. Der für Giancarlo wieder von einem Rentner, Fabrizio Micciché. Und der letzte in der Reihe – der vorerst letzte, fassen wir uns mal lieber an die Eier, wie Marco Auteri es täte, auch wenn das nicht besonders fein ist –, der Nellys Aufmerksamkeit erregt hatte, war einer Supermarktkassiererin namens Beniamina Sartori zu verdanken. Alle waren von einer höflichen Männerstimme angerufen worden, die sie »bezirzt« hatte. Der geheimnisvolle Unbekannte hatte ihnen
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