Der Fluch vom Valle della Luna
Mädchen, wurden heftig geschlagen, Schädeltrauma, gebrochene Rippen, eine zertrümmerte Hand ...«
Ohne darauf einzugehen, wandte Nelly sich an den Sohn.
»Nein, mein Assistent Privitera und ich waren nicht dabei, weder in Bolzaneto noch in der Diaz-Schule. Doch die Bilder haben wir gesehen. Diese und auch die einer Stadt, die sich nach den Übergriffen nicht gerade friedlicher Demonstranten in eine Art Kriegsgebiet verwandelt hatte. Leider kann man dazu nur sagen, dass das friedliche Zusammenleben zusammenbricht, sobald die Situation außer Kontrolle gerät, und sich Räume bilden, in denen der Mensch seine wahre Natur zeigt. Die übliche. Die, die man mit Hilfe von Gesetzen und der Polizei zu bekämpfen versucht, doch Letztere besteht leider auch nur aus menschlichen Wesen.«
»Sehr gut, ausgezeichnet.« Severo Sanmarco deutete einen Applaus an. »Immer schön im Vagen bleiben. Ein echter Pontius Pilatus. Die menschliche Natur ... schieben wir’s doch darauf. Wir sprechen sie schuldig, und alle sind freigesprochen.«
Er drehte sich um und verschwand ebenso lautlos, wie er gekommen war. Nelly fühlte sich, als hätte sie ein paar Ohrfeigen bekommen. Gerolamo blickte starr geradeaus, seine Wange zuckte unmerklich. Dottor Sanmarco kratzte sich ratlos am Kopf und holte tief Luft.
»Es tut mir leid, Signori. Diese Geschichte ist eine Wunde ...«
»... die noch eine ganze Weile brauchen wird, um zu heilen, ich weiß. Machen Sie sich nichts draus. Ich verstehe Ihren Sohn. Meiner hat damals auch nicht anders geredet. Ich maße mir nicht an, etwas in zwei Sätzen erklären zu können, was ich selbst nicht genau durchschaue. Dennoch danke ich Ihnen für Ihre Zeit.« Nelly stand auf, und die beiden Männer erhoben sich ebenfalls.
Die beiden fuhren die Via Aurelia zurück. Die rote Sonne setzte den vom Wolkenbruch blankgeputzten Abendhimmel in Flammen. Seit dem Verlassen der Villa hatten sie kein einziges Wort gewechselt. Nelly fühlte sich leer und innerlich taub. Ausnahmsweise sprach diesmal Gerolamo als Erster.
»Das tut weh, was, Dottoressa?«
»Ja.«
»Eigentlich sollten wir inzwischen abgehärtet sein, aber das sind wir nicht.«
»Wir müssen damit leben, Gerolamo. Und die, die es grundlos abbekommen haben, auch.«
»So ist es.«
Sie schwiegen noch eine Weile, während das Auto durch Camogli, Recco, Sori und Bogliasco rollte. Plötzlich musste Nelly nicht mehr an die Worte des jungen Sanmarco, sondern an sein Gesicht denken. An diesen harten Ausdruck, den es hatte, als er ihre Hand gedrückt hatte, und wie verzerrt und hässlich seine hübschen Züge plötzlich geworden waren. Er hatte sie an jemanden erinnert ... Vergeblich durchwühlte sie ihr Hirn.
»Der Junge erinnert mich an jemanden, aber ich weiß nicht, an wen.«
Gerolamo schüttelte den Kopf.
»Eine Sache ist sicher, die Nase hat er jedenfalls nicht von seinem Vater, zum Glück.«
XVI
Lorenza Pisu war in einer Nacht Mitte Juni gestorben, ein paar Tage nach Nellys und Gerolamos Besuch in Ruta. Als man sie morgens fand, hing sie halb aus dem Bett, und Dottor Sanmarco, der sofort gerufen worden war, konnte nur noch ihren Tod feststellen.
Als Nelly es von Sandra erfuhr, war sie nicht besonders überrascht. Eine alte, sehr kranke Frau, die seit langem schon ein Leben führte, das keines mehr war. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, und nun war die Zeit abgelaufen. Daran musste sie denken, als sie zum vierten Mal binnen weniger Monate zum Mausoleum der Pisus hinter dem Sarg herschritt. Eine laue Brise fuhr ihr durchs Haar, die Sonne, die sich gnädig blicken ließ, wärmte bereits, es war ein »Top«-Tag nach vielen »Flop«-Tagen dieses nicht nur in meteorologischer Hinsicht durchwachsenen Spätfrühlings. Sandra stöckelte seufzend neben ihr her und hatte Mühe, auf ihren extravaganten Stiefeletten mit ihr Schritt zu halten. Nach jedem Seufzer stieß sie ein »So was!« hervor, was Nelly allmählich gehörig auf den Wecker ging.
»Könntest du bitte mal ’ne andere Platte auflegen, Sa? Du nervst.«
Sandra warf ihr einen verdutzten Blick zu und verstummte.
Magraja folgte dem Sarg als Erste, auf Romeo Pizzi gestützt. Statt strenger Trauer trug sie ein schlichtes taubengraues Kostüm. Das helle Haar fiel ihr ins Gesicht und verbarg ihre Züge. Susanna in einem hellblauen Kleid mit schwarzer Jacke schritt allein und mit verschlossener, düsterer Miene hinter ihnen her. Dahinter Serena, die Emotionalste der Familie, wie immer in
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