Der Fluch vom Valle della Luna
...«
Ein lautes Geräusch lässt Nelly, Magraja und Severo zusammenfahren. Dumpfe Schläge. Ein Krachen, das den Fußboden erzittern lässt. Sie haben die Tür aufgebrochen. Tano, Marco und vier Beamte dringen in die Wohnung ein, für Mutter und Sohn gibt es kein Entrinnen. Nelly ist stinkwütend. Zu Tode erschrocken und stinkwütend über ihre Scheißangst.
»Super, da seid ihr ja endlich. Wieso habt ihr nicht ein kleines Nickerchen gemacht? Ihr hättet auch noch gemütlich Kaffee trinken gehen können, schließlich hab ja nur ich den Kopf hingehalten, nicht wahr? Ich habe gesagt, Zugriff in einer halben Stunde, wenn ich nicht eher wieder herauskomme. Ihr habt doch alle zugehört oder nicht? Verdammte Scheiße ...«
AFFOGATO AL WHISKY
Als Nelly schon befürchtete, ihre Patience würde nicht mehr aufgehen, hat sie es bravourös zu Ende gebracht. Alle haben sie beglückwünscht, Tano vorneweg. An jenem Tag bei den Pisus hatte sie tatsächlich eine Wanze am Körper, die Severo gefunden und während ihrer Bewusstlosigkeit zerstört hatte, doch hatte ihn das von der zweiten Wanze abgelenkt, die sie während einer kurzen Unachtsamkeit Magrajas unter den Couchtisch geklebt hatte. Tano, Marco und die anderen vor dem Haus Postierten hatten alles mit angehört und mitgeschnitten. De Magistris ist frei, Basile selig. Panni und Boboi Sogos haben den Enkel nach Luras eingeladen. Hoffentlich duscht Panni vorher.
Und dann gibt es – abgesehen von den zahllosen Toten – noch weitere Verlierer. Pizzi, der Magraja wahrscheinlich liebte und nicht ahnte, was vor sich ging, Manuela, die so verliebt in Severo war ... Nelly sitzt vor der Eisdiele Guarino, vormals Reati, auf der Spianata Castelletto. Stühle und Tische stehen auf einer Art hölzernen Bühne, es ist Abend, ein laues Lüftchen geht, und ganz plötzlich ist der Sommer gekommen, mild und versöhnlich. Sie sitzt vor einem mehr als üppigen affogato al whisky und wartet auf Sandra. Sie denkt daran, wie sie sie im Caffè degli Specchi getroffen hat und alles seinen Anfang nahm. An den langen Weg durch menschliche Bosheit und Qual. An die vielen Protagonisten dieser Tragödie.
»Woran denken Sie, Dottoressa Rosso?«
»Ciao, Sa.«
Sandra trägt ein schwarzes, trägerloses Seidentop über einem schwarzen, rot und gelb geblümten Minirock, sie ist knackbraun und entspannt. In Bestform. Nelly dagegen ist blass, sie hat sich ein zu großes T-Shirt und eine alte Jeans übergeworfen und fühlt sich unendlich müde. Sie sollte zufrieden sein, sich über die Ergebnisse freuen, auch wenn es noch manche Punkte zu klären gibt. Aber stattdessen ...
»Was ist los, Schätzchen? Du siehst bedrückt aus. Die Zeitungen, meine voran, und auch das Fernsehen reden von nichts anderem als dem Fall, den du gerade gelöst hast. Wenn das so weitergeht, wird das noch verfilmt. Meine Mutter weint vor Dankbarkeit, wenn sie nur deinen Namen hört, und ich soll dir ihren tiefen Dank aussprechen. Ihre Freundin Amalia schreibt und telefoniert regelmäßig mit ihr, sie erscheint um Jahre jünger und mit der Vergangenheit versöhnt. Du hast ein geradezu unentwirrbares Knäuel aufgelöst. Wieso so geknickt?«
Nelly schüttelt den Kopf. Sie weiß nicht, wie sie das, was sie empfindet, ausdrücken soll. Den bitteren Nachgeschmack, den diese schmutzige Geschichte bei ihr hinterlassen hat, in der die Opfer zu Mördern geworden sind.
»Je älter ich werde, desto mehr verweichliche ich. Die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschwimmen immer häufiger. Ich empfinde immer mehr Verständnis für ... Ich weiß nicht, wie ich’s erklären soll. Schon seit einer Weile ist Schwarz nicht mehr Schwarz, vom Weiß ganz zu schweigen. Wenn ich an all das denke, was dein Cousin Giacomo verbrochen hat, frage ich mich, ob es wirklich eine höhere Gerechtigkeit gibt. Vielleicht hat er seinen Vater umbringen lassen. Er hat die Kindesentführungen veranlasst. Er hat seine Komplizen verraten. Er hat nicht gezögert, seine als behindert erachtete Tochter aus dem Weg zu räumen – er selbst hat es Annabelle, nein, Magraja gesagt, ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, sie bei ihrem richtigen Namen zu nennen – und sie durch ein entführtes Kind zu ersetzen. Und als wäre das nicht genug, hat er sich jahrelang an ihr vergangen und ihr drei Kinder gemacht. Den Sohn, Severo, hat er Sanmarco gegeben und für ihn offenbar Unterhalt bezahlt. Oder Schweigegeld? Die Mädchen – wertlos in seinen Augen – sind an
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