Der Fluch vom Valle della Luna
Nein, je mehr ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher kommt es mir vor, dass diese Briefe von einem kaltblütigen Killer stammen, der uns einen nach dem anderen ermorden will. Das sieht vielmehr nach einem tragischen Schicksal aus, nach einer Art Familienfluch. Wissen Sie, was man in Sardinien sagt? Vielleicht hat uns einer mit dem bösen Blick belegt, s’ ogu malu. Vielleicht ist dieser elende Briefeschreiber ein Magier – oder eine Hexe, die uns ihren bösen Zauber angehängt hat. Wir Sarden glauben an solche Sachen, wissen Sie?«
Sie versucht zu lachen, bringt jedoch nur ein gequältes Krächzen heraus. Wenn du wüsstest, wie sehr ich daran glaube. Es gibt da so eine Senegalesin namens Madame Claire ... Aber in diesem Fall nicht.
Lautlos ist der Diener mit einem Tablett aufgetaucht, auf dem eine Teekanne, zwei Teetassen und ein Zuckerdöschen voller Kandis stehen. Zitronenschnitze, ein kleines Milchkännchen und Buttergebäck auf einem Silberteller. Er stellt alles vor Nelly und Marilena auf dem Couchtisch ab, verbeugt sich und verschwindet ebenso lautlos, wie er gekommen ist.
»Sollte sich jedoch tatsächlich jemand an den Mitgliedern Ihrer Familie rächen, Marilena, dann sind auch Sie oder Ihre Schwester in Gefahr. Wenn Sie also irgendetwas wissen, irgendein Familiengeheimnis, dann sollten Sie jetzt darüber reden.«
Marilena fällt ihr gereizt ins Wort.
»Meine liebe Nelly, das ist doch Blödsinn. Es gibt keine Familiengeheimnisse. Und ich jedenfalls habe keine Feinde, anders als vielleicht mein Bruder Alceo. Schon möglich, dass ein Patient mit dem Resultat nicht hundertprozentig zufrieden ist, aber mich dafür umbringen zu wollen, erscheint mir doch sehr weit hergeholt. Ich bin immer überzeugter, dass Alceos Mörder in seiner Crew zu finden ist und das Motiv dafür in seinen Weibergeschichten. Natürlich ist das alles entsetzlich. Erst Papas Tod, dann Anselmos, dann wird Giancarlo des Mordes an der armen Gioia angeklagt und jetzt auch noch ...«
Nelly hat sich mehr auf Marilenas Mienenspiel als auf ihre Worte konzentriert und hängt derweil anderen Gedanken nach. Dann unterbricht sie sie jäh.
»Weiß man, wer Alceos Erben sind, Marilena? Gibt es ein Testament?«
Nelly hat einen sachlichen Ton angeschlagen, doch Marilena reagiert wie von der Tarantel gestochen.
»Wer wird Alceo schon beerben? Wir natürlich, die Familie. Ich und Anselmos Kinder. Keine Ahnung, ob er ein Testament gemacht hat, aber ich glaube kaum. Das passte nicht zu ihm.«
Sie wendet den Blick von Nelly ab, als hinge sie einer Erinnerung nach. Oder als sagte sie nicht die Wahrheit.
»Und Magraja bekäme nichts? Sie ist doch auch Ihre Schwester.«
Marilena zuckt entnervt mit den Achseln.
»Was weiß ich? Wir werden sehen. Ist das denn so wichtig für die Ermittlungen?«
»Geld ist ein sehr beliebtes Motiv. Ja, es ist wichtig. Sollte es ein Testament geben, würde ich das gerne wissen.«
Marilena sieht sie ausdruckslos an, dann schüttelt sie den Kopf.
»Keiner von uns hätte Alceos Geld nötig.«
Nelly nickt und beschließt, die letzte Karte auszuspielen, obwohl Marilena sich bereits zusammenrollt wie ein Igel.
»Kurz vor seinem Zusammenbruch hat Ihr Bruder mir gesagt, Ihre Schwester Magraja sei eine Art Nymphomanin. Wussten Sie davon, Marilena?«
Marilena starrt sie eisig an. Die Rollläden sind vollständig heruntergegangen. Das Drehbuch gefällt ihr nicht mehr.
»Ich habe keine Ahnung, was Alceo damit sagen wollte. Magraja ist eine völlige Niete, Sex mit eingeschlossen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, Nelly, ich muss nach Novi, mein Mann erwartet mich.«
Sie steht auf und geht zur Treppe, obwohl Nelly noch nicht ausgetrunken hat. Nelly stellt die Tasse ab und folgt ihr.
»Was macht Ihr Mann, Marilena? Ist er auch Arzt?«
»Mein Mann ist Geschäftsführer der Klinik, oder besser gesagt der Gesellschaft, der die Klinik untersteht«, antwortet Marilena kalt und ohne sich umzudrehen. Das Gespräch ist beendet.
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1 typisch ligurische Vorspeise: Fisch oder Gemüse im Hefeteig frittiert
XI
»Spreche ich mit Maria Grazia Pisu? Guten Tag, Maria Grazia. Ich bin Commissario Nelly Rosso ... Genau, die Freundin ihrer Cousine Sandra. Dürfte ich heute um vier bei Ihnen vorbeikommen, wäre Ihnen das recht? Schön. Ich bringe meinen Assistenten Privitera mit. Danke, auf Wiedersehen.«
Nelly legte auf und fragte sich, was sie sich von einem Treffen mit der jüngsten Pisu-Schwester versprach. Vielleicht
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