Der Fluch vom Valle della Luna
Markt auf der Piazza Romagnosi mit seinen klapprigen Verkaufsständen, hinter denen die Marktleute winters dem eisigen Talwind ausgesetzt gewesen waren und auf dem Nelly gelegentlich Obst und Gemüse gekauft hatte, war nun in eine neue, moderne Halle umgezogen. Viele der umliegenden Häuser waren restauriert oder zumindest frisch gestrichen. Das Marassi-Gefängnis existierte noch immer und war der steigenden Anzahl seiner Insassen nicht annähernd gewachsen. Wenn man bedachte, dass man in der Genueser Altstadt bis in die fünfziger Jahre hinein die Haustüren offen ließ ... Nelly riss sich aus ihren sozioarchitektonischen Betrachtungen und marschierte entschlossen auf das Haupttor des Gefängnisses zu.
Ein Gefängniswärter führte Giancarlo Pisu in den Besuchsraum, ließ ihn vor Nelly Platz nehmen und schloss leise die Tür hinter sich. Die Kommissarin musterte den Jungen. Sie war verblüfft, wie sehr er sich seit dem offiziellen Verhör durch Antonella Pasqui, bei dem sie zugegen gewesen war, verändert hatte. Damals war Giancarlo erregt und verwirrt gewesen. Jetzt war sein dunkles Haar fast weiß geworden und stach von seinem hageren, spitzen, immer noch jungen Gesicht ab. Seine Augen waren eingefallen, jedoch anders als beim letzten Mal ruhig.
»Guten Tag, Giancarlo. Wie geht es Ihnen?«
Nelly stützte sich auf die Tischplatte und beugte sich vor. Giancarlo seufzte kurz.
»Besser. Ich nehme meine Medizin und bin ... im Lot.«
Er schluckte. Nelly wartete ein paar Sekunden, damit er sich fassen konnte. Sie musterte ihn. Er trug ein blassgrünes T-Shirt und Jeans. Er hatte die Arme verschränkt, soweit die Handschellen es ihm erlaubten, und hielt die Unterarme umfasst. Eine Abwehrhaltung. Als rechne er damit, eins auf den Deckel zu kriegen.
»Sie wollten mit mir sprechen. Allein.«
»Ich habe Gioia umgebracht?«
Er hatte nur geflüstert, und Nelly begriff nicht genau, ob es eine Feststellung oder eine Frage war. Vielleicht beides.
»Du warst der Einzige, der dort war, und von oben bis unten mit Blut verschmiert. Du hattest das Messer in der Hand, am Tatort gab es keine weiteren Fingerabdrücke.«
Sie war zum Du übergegangen, um die Spannung zu mindern. Sie beobachtete die Wirkung ihrer Worte. Giancarlo zog sich noch mehr zurück – der gefürchtete Schlag war erfolgt. Tränen schossen ihm in die Augen und blieben zitternd darin stehen.
»Aber ich erinnere mich nicht, es getan zu haben. Wenn ich bei mir gewesen wäre, hätte ich das nie getan. Ich liebe ... ich habe Gioia geliebt. Auch wenn sie und mein Vater vielleicht ...«
Sein Blick verlor sich und kehrte dann zu Nelly zurück.
»Ich weiß nie genau, ob das, was ich sehe und höre, wirklich ist oder nicht. Wissen Sie, was das bedeutet, Nelly?«
Sie versuchte es sich vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Es war, als blicke man in einen Abgrund und zöge sich sogleich wieder zurück, um seinem Sog zu widerstehen. Stattdessen nickte sie teilnahmsvoll, doch er war in Gedanken bereits woanders.
»Ich glaube – aber nicht einmal ich kann mir trauen –, ich glaube, sie so gefunden zu haben, sie war noch nicht tot, sie lag im Sterben, ich habe sie in den Armen gehalten, alles war voller Blut, ich habe das Messer in die Hand genommen, dann habe ich gemerkt, dass sie nicht mehr atmete, und irgendwann ist dann meine Schwester gekommen, glaube ich. Oder vielleicht ist das eine Halluzination, und ich habe sie zuvor erstochen, oder?«
Giancarlo klang dermaßen gequält, dass Nelly unwillkürlich Mitleid empfand. Der Ärmste. Es wäre besser für ihn, wenn er nie zur Vernunft käme. Das muss entsetzlich sein.
»Wieso bist du zu Gioia gegangen?«
»Sie hatte mich angerufen, sie war völlig aufgelöst, stotterte. ›Komm her, sofort, bitte!‹ Jetzt kann ich mich ganz genau daran erinnern, aber ob es wirklich so war?«
Er starrte sie an, die wirren Augen angstgeweitet. Dann ließ er den Kopf jäh sinken, als drückte eine unerträgliche Last ihn nieder. Nelly begriff, dass hier nichts mehr zu holen war, und rief den Wärter, der ihn in seine Zelle zurückbrachte. Auf ihrem Weg hinaus begegnete sie einer energischen Rothaarigen in einer eleganten, leuchtend grünen Jacke, grauem Rock und Kaschmirschal. Es war die Anwältin Fiorenza De Mattei, die sie bereits beim Verhör getroffen hatte. Die Frau streckte ihr die Hand hin.
»Haben Sie mit meinem Mandanten gesprochen, Dottoressa Rosso? Er hat darauf bestanden, dass ich nicht dabei bin. Ich war
Weitere Kostenlose Bücher