Der Fluch vom Valle della Luna
bei Palau. Das ist kaum wiederzuerkennen, aber was soll’s, ich hab einfach Sehnsucht nach dem Myrtenschnaps, dem Käse, den Menschen. Ich habe da gute Freunde.«
»Die Pisus stammen aus Luras. Das liegt mitten in der Gallura.«
»Ich weiß. Das Dorf kenne ich nicht, aber die Gegend ziemlich gut.«
»Als Giacomo Pisu sein Dorf mit Sack und Pack auf Nimmerwiedersehen verlassen hat, war er bei einigen seiner Mitbürger angeblich nicht mehr sonderlich gut gelitten. Eine uralte Geschichte. Seine Feinde müssten heute achtzig und älter oder schon unter der Erde sein. Überdies hätten sie mehr als dreißig Jahre Zeit gehabt, um es ihm heimzuzahlen. Aber vielleicht sollte man sich trotzdem die Mühe machen, der Sache nachzugehen. Sie sagten, Sie hätten Freunde dort ...«
»Ich mach mich sofort an die Arbeit, Dottoressa Rosso. Sobald ich etwas weiß, sage ich Ihnen Bescheid.«
»Wunderbar. Ach, übrigens, Basile, Gioias angeblicher Liebhaber heißt A. G., den ganzen Namen darf ich nicht nennen. Sehen Sie, auch wir machen unsere Hausaufgaben«, sagte sie verschmitzt und verabschiedete sich.
Abends, als in ihrer Wohnung bis auf das gefräßige Schmatzen der Katzen Totenstille herrschte, setzte sich Nelly an den Schreibtisch. Ihr Abendbrot hatte aus einem Glas warmer Milch und einer Banane bestanden, und sie hatte Tano mit einer fadenscheinigen, wenn auch legitimen Entschuldigung abgewimmelt: »Ich bin müde.« Sie wollte ihre Gedanken zu einem Fall ordnen, der sich gerade als einer der verworrensten und interessantesten ihrer bisherigen Laufbahn entpuppen oder platzen könnte wie eine Seifenblase. Und genau das war das Problem. Sie öffnete eine neue Datei auf ihrem Computer und fing an zu schreiben. Als Erstes erstellte sie den Familienstammbaum nach Signora Annas Angaben. Um die alte Dame nicht einzuschüchtern, hatte sie sich während des Treffens keine Notizen gemacht, doch glücklicherweise funktionierte ihr Gedächtnis noch hervorragend, insbesondere, wenn es darum ging, sich Namen und Fakten zu merken.
Der Urgroßvater: Anselmo Pisu, Apotheker, ehemaliger Bürgermeister, Grundbesitzer. Die beiden Söhne: Samuele und Rodolfo. Die Namen der drei außerhalb des Dorfes verheirateten Schwestern würde sie über Valeria rauskriegen. Samuele hatte Giacomo bekommen, der wiederum mit seiner Frau Lorenza Anselmo, Marilena, Alceo und Magraja gekriegt hatte. Rodolfo, verheiratet mit (?) – vervollständigen –, hatte eine einzige Tochter gehabt, Anna. Signora Anna, Sandras Mutter. Die jüngste Generation bestand aus Anselmos Kindern Serena und Giancarlo. Und aus einer Tochter von Marilena und Romeo Pizzi, die in den Vereinigten Staaten wohnte. Den Namen musste sie sich noch besorgen. Dann schrieb sie die Todesursachen neben die Namen, sofern sie ihr bekannt waren. Sie stellte alles in eine Tabelle und betrachtete das Ergebnis. Rodolfo: Jagdunfall. Der alte Apotheker, der Anselmo hieß wie sein ältester Enkel: Herzversagen aus Kummer über den Tod des Sohnes? Samuele: Unfall, vom Pferd gefallen. Giacomo: Unfall, vom Auto überfahren. Anselmo: Unfall, die Treppe hinuntergestürzt. Alceo, vergiftet, und Giancarlo, nicht tot, sondern angeklagt wegen Mordes im Gefängnis, waren in der Liste von Unfalltoten die beiden Ausnahmen. Was für eine Geschichte. Ich bin schon wahnsinnig gespannt, was Valeria und Basile bei ihren Recherchen über die Familie herausbekommen. Jedenfalls sind von sieben männlichen Familienmitgliedern vier durch Unfall gestorben, einer wurde vergiftet und einer ist in einen entsetzlichen Mordfall verwickelt. Klar passieren im Leben Unfälle. Und Verbrechen leider auch. Aber hier liegen wir bei einer suspekt hohen Trefferquote. Allerdings sind es anscheinend nur die Männer, denen das Schicksal eins auswischt.
Sie fügte die Hypothese des einzigen Motivs hinzu, das sich wie ein blutroter Faden durch die Familiengeschichte der Pisus zog: eine uralte Fehde und eine daraus resultierende Vendetta, der die Männer dreier Generationen zum Opfer gefallen waren und die auf einen tiefen, unstillbaren Hass schließen ließ und auf Nachkommen, die wild entschlossen waren, die Sache zu Ende zu bringen. Sie schrieb daneben: unwahrscheinlich. Die anonymen Briefe konnten dennoch von jemandem stammen, der Anselmo und Alceo auf dem Gewissen hatte.
Sie seufzte resigniert. Es fehlten zu viele Puzzleteilchen. Das einzig Sichere waren ein Haufen Tote und unbefriedigende Erklärungen. Sie beschloss, ins Bett zu gehen,
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