Der Fluch vom Valle della Luna
daran so seltsam? Hat Celeste sich Sorgen gemacht und Sie angerufen?«
Schweigen. Eine, zwei, drei, vier Sekunden.
»Nein. Ich habe angerufen, um zu wissen, wie es Mama geht, ich wollte mit Magraja reden, und Celeste hat mir seelenruhig erklärt, dass sie nicht da ist und die ganze Nacht fort war. Nicht zu fassen«, wiederholte sie stur, obwohl ihr vielleicht gerade klarwurde, dass ihre Erregung für einen Außenstehenden nicht recht nachzuvollziehen war.
In Nelly stieg die kalte Wut auf. Wofür hielt diese Frau sich?
»Soweit ich weiß, ist Ihre Schwester seit ein paar Jährchen volljährig, Marilena. Wenn sie die Nacht über fortbleiben will und Ihre Mutter wohlversorgt zurücklässt, hat das doch nicht die Polizei zu interessieren. Falls sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden nicht wieder auftaucht und auch sonst nichts von sich hören lässt, können wir anfangen, uns Sorgen zu machen, aber jetzt sehe ich keinerlei Veranlassung dazu.«
Marilena legte kommentarlos auf. Nelly musste mehrmals tief durchatmen, um sich wieder zu beruhigen. Marco musterte sie fragend.
»Die hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ihre kleine Schwester hat sich eine Nacht freigenommen, und sie hat sie dabei erwischt und spielt sich auf wie eine Wahnsinnige.«
Marco nickte.
»Bei dieser Familie weiß man nie. Lass uns bei Lorenza Pisu vorbeischauen, was meinst du?«
Nelly kochte noch immer vor Wut über Marilenas Unverschämtheit, musste allerdings zugeben, dass Marco recht hatte. Es war besser, der Sache auf den Grund zu gehen, denn wenn Magraja in den nächsten Stunden tatsächlich nicht wieder auftauchen sollte, wäre sie der Sündenbock.
Sprachlos betrachtete Marco die gotische Trutzburg, und Nelly musste innerlich grinsen. Hübsch, nicht wahr? Vielleicht sind die Pisus allesamt Vampire, und die kleine Magraja hat sich nachts auf den Weg gemacht, um neue Blutvorräte ranzuschaffen. Ich würde zu gern wissen, was unser Aschenputtel tut, wenn die Verwandtschaft sie gerade nicht kontrolliert.
»So was hab ich noch nie gesehen. Was für ein ... interessantes Gebäude.«
»Da bleibt einem die Spucke weg, was? Du solltest es erst mal von innen sehen.«
Nelly hatte schon mehrfach geklingelt, doch das Tor blieb verschlossen. Schließlich läutete sie bei einem Nachbarn. »Polizei!«, sagte sie, und endlich öffnete sich das schwere Tor. Nelly begann sich unwohl zu fühlen. Hätten sie ihren Besuch besser ankündigen sollen? Vielleicht war Celeste fort, um Besorgungen zu machen, und sie waren umsonst gekommen. Doch die Wohnungstür war nur angelehnt. Zögernd traten sie ein. Stille. Dunkel. Es hatte wieder zu regnen begonnen, und die Tropfen trommelten gegen die Fenster. Sonst war nichts zu hören.
»Signorina Pisu, Magraja? Celeste? Ich bin’s, Rosso von der Polizei, mit meinem Kollegen Auteri.«
Ihre Stimme hallte von den hohen, gewölbten Decken wider. Instinktiv ließ Marco die Hand an die Pistole unter seiner Achsel gleiten. Wie Kinder, die Angst vorm Dunkeln haben, tasteten sie sich zum Lichtschalter vor. Schließlich erreichten sie das Schlafzimmer der Mutter. Die Tür war offen. Vorsichtig spähten sie hinein.
Die Frau saß an einen Stapel bestickter Kissen gelehnt. Das graue, ordentlich gekämmte Haar war zu einem kindlichen Pferdeschwanz gebunden. Sie trug eine wollene rosa Bettjacke und schien vor sich hin zu singen – ihre Lippen bewegten sich lautlos. Ihre Augen waren geschlossen, öffneten sich jedoch beim leisen Knarren der Tür. Braune, sehr große Augen. Als sie die beiden in der Tür stehen sah, verzog sich ihr Mund zu etwas, das wohl ein Lächeln sein sollte.
»Giacomo ... k...komm, Giaco...mo«, nuschelte sie angestrengt an Marco Auteri gewandt. Nelly machte ihm ein Zeichen, zum Bett zu gehen. Die Gelegenheit, mit Lorenza Pisu zu sprechen, wollte sie sich nicht durch die Lappen gehen lassen. Marco hatte sofort begriffen und war ans Bett getreten. Lorenza Pisu beugte sich mühsam vor, sodass sie fast aus dem Bett rutschte, und hob matt die Hand. Marco griff danach.
»Lorenza«, flüsterte er.
»I...ich ver...zeihe dir. Bleib ... bei ... mir ...«
Nelly hatte verblüfft zugesehen, wie schnell ihr Kollege in die Rolle von Lorenzas verstorbenem Gatten geschlüpft war. Abermals drückte er ihre knotige, blasse Hand, nahm sie sanft bei den Schultern und bettete sie wieder in die Kissen.
»Wie geht es dir, mein Liebes? Wo ist Magraja? Und Celeste, warum ist sie nicht hier?«
Lorenza verzog
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