Der Fluch vom Valle della Luna
Sie ist völlig mit Blut bedeckt wie auf den Fotos der Spurensicherung. Auch ein kleiner alter Mann ist da, den sie nur auf Bildern gesehen hat. Er strotzt vor Energie und Bosheit. Giacomo, der Vater. Die Mutter ist ebenfalls anwesend, bleich und schwach, jedoch nicht ans Bett gefesselt, sondern aufrecht. Sie bewegt sich ruckartig, wie ein Roboter. Sie klammert sich an ihren Mann, den sie um Haupteslänge überragt, und flüstert ihm etwas ins Ohr. Unsichtbar, wie man in Träumen zu sein pflegt, tritt Nelly näher und hört zu.
»Ich verzeihe dir, Giacomo, ich verzeihe dir, ich habe dich immer geliebt.« Er zuckt gereizt mit den Schultern und wendet sich an die beiden Söhne.
»Wieso habt ihr’s nicht getan? Hättet ihr’s getan, hätte es keine Probleme gegeben. Ihr seid keine Männer, ihr seid des Namens Pisu nicht würdig. Das war nicht viel anders, als einem Schaf die Kehle durchzuschneiden, und jetzt sind wir alle tot. Weil ihr Feiglinge wart. Es gibt keinen einzigen Pisu mehr, nicht einen.«
Anselmo stiert ihn wütend an. »Wenn du nicht getan hättest, was du getan hast, Alter, wäre auch nichts passiert. Es ist einfach, die Verantwortung auf die Jüngeren und Schwächeren abzuwälzen. Dabei bist du schuld. Deine verdammten Gene, genau wie bei Großvater.«
»Ja, ja, verdammt!«, kreischt Giancarlo. »Verdammt! Ich hab’s schon immer gewusst. Verdammte. Ihr seid, wir sind alle Verdammte ...« Großvater Giacomo verpasst ihm eine Maulschelle, und er wird flüssig wie Wachs. »Degeneriertes Arschloch. Der einzige Mann im Haus bist du, Marilena.« Er lächelt seine Tochter an. »Was nicht getan wurde, kann man jetzt tun, Papa«, sagt sie und starrt ihn an. »Ich kümmere mich darum.«
»Wehe!«, fährt der Alte zornig auf. »Jetzt ist es zu spät, ich verbiete es dir!«
»Was willst du schon verbieten, Alter, du bist tot ... tot.«
»Du bist tot, Gott sei Dank, du bist tot«, fallen alle anderen im Chor ein.
Die finstere Totenklage ließ Nelly schweißnass aus dem Schlaf schrecken. Unglaublich, was ihr Hirn sich des Nachts zusammenreimte. Sie überlegte, was der Traum wohl bedeuten konnte. Ihr Unterbewusstsein war überzeugt davon, dass der Grund für die Todesfälle beim alten Pisu lag. Aber wieso beschuldigte er seine Söhne? Was hatten sie sich geweigert zu tun? Es war absurd, Träume für bare Münze zu nehmen. Schluss damit, sie musste Basile anrufen. Irgendetwas würde bei den Ermittlungen in Sardinien schließlich herausgekommen sein. Sie schwang sich aus dem Bett und ging ins Bad. Draußen nahm der Frühling einen neuen Anlauf, und die erste Morgensonne schickte ihr blasses Leuchten über den Himmel. Doch die Luft war noch immer ziemlich frisch, dabei war es schon fast Ende März.
»Auf nichts ist mehr Verlass«, brummte sie, drehte die Dusche auf und wartete in gebührendem Abstand, bis der Wasserstrahl sich erwärmte. Als nichts geschah, stellte sie sich beherzt unter das kalte Wasser. Soll ja angeblich gesund sein. Unbewusst summte sie den Refrain aus ihrem Albtraum vor sich hin: »Du bist tot, Gott sei Dank, du bist tot.« Als sie es bemerkte, verstummte sie schaudernd.
Basile war nicht da, und auch sein Assistent nicht. Das Büro war verschlossen. Irritiert schüttelte Nelly den Kopf, kramte ihr Telefon hervor und wählte seine Handynummer. Eine penetrante Stimme setzte sie darüber in Kenntnis, dass Basile nicht erreichbar war. Nichts zu machen, sie würde es später noch einmal versuchen. Auch im Präsidium gab es nichts Neues. Valeria hatte über die Familie, die sich bis in Nellys Träume schlich, nichts weiter herausfinden können. Die einzige Neuigkeit, wenn man sie denn so nennen mochte, kam von Gerolamo.
»Was sagst du da? Bist du dir sicher?«
Ungläubig starrte Nelly ihren Chefassistenten an, der vor ihrem Schreibtisch stand, und merkte zu spät, dass sie ihm mit ihrer spontanen Reaktion auf den Schlips getreten war. Gerolamo sagte nie etwas, wenn er sich nicht sicher war. »Entschuldige bitte. Ich wollte deine Schilderung nicht in Zweifel ziehen, ich bin nur platt. Ich meinte, bist du sicher, dass es wirklich sie war?«
Gerolamo lächelte nur.
»Ich verstehe Ihre Verblüffung, Dottoressa. Ich musste auch mehrmals hinsehen, weil ich es selbst nicht glauben konnte. Leider habe ich sie aus den Augen verloren. Wir waren am Bahnhof Principe, es herrschte ziemliches Gedränge, sie war da und hat sich eine Zeitung gekauft, und während ich noch überlegt habe, was ich machen
Weitere Kostenlose Bücher