Der Fluch Von Belheddon Hall: Roman
war zu. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie hatte die Tür nicht geschlossen, und es ging kein Wind. Obwohl die Fenster offenstanden, bewegten sich die Vorhänge nicht. Als sie einen Schritt auf die Tür zu machte, fiel ihr plötzlich auf, wie still es im Haus war. Kein einziges Geräusch war zu hören.
Die Tür war nicht zugesperrt. Sie riß sie auf und starrte über den Flur zu ihrem eigenen Schlafzimmer. Ihre Nackenhaare
stellten sich auf. Da war jemand, das spürte sie; jemand, der sie beobachtete und sie anflehte zu bleiben. Sie schloß kurz die Augen, atmete tief ein und versuchte, sich zu beruhigen.
»Wer ist da?« Ihre Stimme klang sehr merkwürdig in der Stille, trotzig und ängstlich. »Luke? Lyn? Seid ihr da?« Es war nichts zu hören.
Sie mußte nachsehen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und zwang sich, zur Schlafzimmertür zu gehen. Sie war hin und her gerissen. Sie mußte fliehen; sie wollte hierbleiben; sie wollte sich dem köstlichen, ekstatischen Gefühl hingeben, das sie einmal überwältigt hatte, als sie im Bett gelegen hatte. Sie spürte, wie dieses sanfte, beruhigende Gefühl sie zu sich lockte. Zögernd trat sie zur Tür und blickte ins Schlafzimmer. Niemand war da. Der Raum war völlig leer.
18
I hre Hände zitterten so heftig, daß es ihr nicht gelingen wollte, den Schlüssel ins Türschloß des Mini zu stecken. Immer wieder warf sie einen Blick zurück über die Schulter und mühte sich verzweifelt ab. Die hintere Haustür war zu. Sie hatte sie zufallen lassen, sich aber nicht die Zeit genommen abzusperren. Dann eben nicht. Jetzt würde sie nicht noch einmal hinübergehen. Sie schloß die Augen, atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe, bevor sie den Schlüssel wieder anzusetzen versuchte. Er stieß gegen das Blech, rutschte ab und landete endlich im Schloß. Sie riß die Tür auf, sprang hinein, klemmte sich hinter das Steuerrad, zog die Tür zu und verriegelte sie von innen. Dann blieb sie einen Augenblick über dem Lenkrad zusammengekauert sitzen. Als sie aufblickte, war der Hof noch immer leer, die rückwärtige Tür noch immer geschlossen. Zwischen den Gewitterwolken erschienen am Himmel blaue Fetzen.
Einen Zettel. Sie hätte einen Zettel schreiben sollen. O mein Gott! Sie sah auf den Beifahrersitz, wo ihre Handtasche liegen sollte. Sie war nicht da. Wahrscheinlich lag sie noch zusammen
mit den Hausschlüsseln auf dem Küchentisch. Noch während sie das bemerkte, wußte sie, daß sie nichts dagegen unternehmen würde. Wenn Luke und Lyn sahen, daß Lyns Mini fehlte, würden sie sich schon denken, daß sie irgendwohin gefahren war; und von den Gowers aus würde sie anrufen.
Auf der Auffahrt blieb sie kurz stehen, sah über die Schulter zur Hausfassade zurück und versuchte, ruhiger zu atmen. Die Fenster waren alle leer; es gab keine Gesichter, die sie vom Schlafzimmer aus beobachteten.
Unterwegs herrschte praktisch kein Verkehr. Bis Woodbridge kam sie gut voran und fuhr bereits in Richtung Norden, als sie zufällig auf die Benzinuhr schaute. Der Tank war so gut wie leer. Joss war schnell gefahren, um sich so rasch und so weit wie möglich von Belheddon zu entfernen, und die ganze Zeit war sie in Gedanken bei Edgar Gower gewesen und allem, was sie ihm sagen wollte, sobald sie dort ankam.
Falls sie dort ankam.
Ohne Handtasche hatte sie kein Geld.
»Scheiße!« Sie fluchte nur selten, erst recht nicht, wenn sie allein war. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Sie schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. »Oh, bitte, mach, daß es noch bis Aldeburgh reicht.«
Sie beugte sich zum Handschuhfach hinüber, öffnete es und durchwühlte die Kassetten und Bonbons, die Lyn dort deponiert hatte. Sie fand zwei Fünfzig-Pence-Münzen und suchte immer weiter, während sie die Augen starr auf die Straße vor sich gerichtet hielt. Nur noch ein Pfund mußte sie finden, dann konnte sie fünf Liter tanken – das würde reichen. Vor ihr tauchte das häßliche Neonschild einer Garage auf, das grell in der regengrauen Landschaft leuchtete. Sie fuhr hinein und stellte sich abseits der Tanksäulen neben das Luft/Wasser-Schild. Jetzt konnte sie das Fach mit beiden Händen durchsuchen und auch sehen, was sie tat. Bonbonpapiere, Kassetten und Einkaufszettel fielen zu Boden. Kaum zu glauben, daß Lyn, die zu Hause so sehr auf Ordnung hielt, in ihrem Wagen derart schlampig war. Lächelnd fiel Joss ein, daß die meisten Bonbonpapiere wohl auf Tom zurückzuführen waren; aber gleich darauf fragte sie sich
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