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Der Fluch von Colonsay

Titel: Der Fluch von Colonsay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaye Dobbie
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Beruf wie Metzger oder Bäcker sein konnte. Beim nächsten Abstauben in der Bibliothek hatte sie das Wort nachgeschlagen.
    Mr Marling stammte wahrscheinlich nicht wie Alice aus Australien, sondern einfach aus Böhmen, was eine Erklärung für Bohemien gewesen wäre, obwohl der Ausdruck ziemlich merkwürdig klang. Auf ihn musste also die zweite Definition zutreffen, dass er ein Mann mit freien und leichtlebigen Moralvorstellungen war. Und sie konnte sich sehr wohl vorstellen, dass Mr Marling nach seinen eigenen Spielregeln lebte.
    Alice blinzelte in die Dunkelheit, den Blick auf die Kommode gerichtet. Sie fand ihre Gedanken mittlerweile weniger schockierend als früher. Wenn sie sich Mr Marling und Ambrosine auf der Ottomane vorstellte, zuckte sie kaum noch zusammen. Sie hatte sich an die Vorstellung gewöhnt. Fantasie und Einbildungskraft waren von der Wirklichkeit verdrängt worden.
    ***
    Fred Swanns Arbeiter brauchten nur einen Tag, um vom Dachboden herunterzuschaffen, was sich dort über hundert Jahre hinweg angesammelt hatte. Die zwei Zimmer im Erdgeschoss waren bis zum Bersten gefüllt mit den verschiedensten Gegenständen aus dem Leben der Cunningham-Familie.
    Rosamund schaute in das erste Zimmer und fand sich einem ausgestopften Tier gegenüber, dass sie aus glasigen Augen anstarrte. Hastig schloss sie die Tür wieder. Die Vergangenheit hatte so lange auf ihre Entscheidungen gewartet, dass es jetzt keinen Grund zur Eile gab.
    Nach dem Abendessen sah Kerry erschöpft aus. Rosamund schickte sie ins Bett und machte sich ans Aufräumen. Sie beide hatten sich inzwischen häuslich eingerichtet. Kerry kochte, und Rosamund half ihr dabei. Anfangs hatte Kerry protestiert, aber Rosamund war hart geblieben.
    Sie starrte auf ihr bleiches Spiegelbild im Fenster über dem Spülstein. Ihre Augen kamen ihr größer vor als sonst, außerdem hatte sie dunkle Ringe darunter. Hinter ihr summte leise der Kühlschrank, und der Geschirrspüler plätscherte vor sich hin. Draußen in der Dunkelheit wurde der Wildwuchs, der einmal der Garten gewesen war, von Windböen niedergedrückt. Es war, als ob ein wildes Tier durch die Disteln, Brennnesseln und das hüfthohe Gras stürmte.
    Ich hatte eine ungewöhnliche Kindheit, dachte Rosamund. Zuerst war ich ganz allein mit der Großmutter hier draußen; später kam Kerry Scott dazu. Kein Wunder, dass ich Stimmen gehört habe. Ich muss entsetzlich einsam gewesen sein. Und sonderbar. Jedenfalls haben das die anderen Kinder behauptet.
    Sie glaubte, sich geändert zu haben, zugänglicher geworden zu sein. Aber vielleicht steckte das sonderbare Kind immer noch in ihr, wie das Küken im Ei. Nach und nach pickte es die Schale weg, bis das Loch groß genug war, um hinauszuschlüpfen.
    Ein heftiger Windstoß brachte die Fensterscheiben zum Klirren. Die riesige Kiefer über der Straße knarrte und schüttelte sich.
    Rosamund konnte sich nicht richtig an ihre Eltern erinnern. Ihr Vater, Adas Sohn, war an Krebs gestorben, als sie noch ein Baby gewesen war. Ihre Mutter, geistig und emotional nie besonders stabil, hatte daraufhin einen Nervenzusammenbruch erlitten und war in der Psychiatrie gelandet. In jener Zeit war das Konzept des Zusammenlebens von Menschen mit und ohne psychische Erkrankungen noch völlig unbekannt gewesen. Ihre Mutter war in der Psychiatrie gestorben, als Rosamund zehn Jahre alt gewesen war.
    Rosamund erinnerte sich an die trostlose Beerdigung. Unter dem Schweigen der Trauernden trugen sie eine Mutter zu Grabe, die sie kaum gekannt hatte. Es waren nur ein paar Leute gekommen, eher um Adas willen als wegen Rosamunds Mutter.
    Sie hielten Ada für sehr tapfer, sich in ihrem Alter noch um Rosamund kümmern zu wollen, und fanden ihre Absicht wunderbar.
    »Ich bin die einzige noch lebende Cunningham«, hatte sie ihnen entgegnet. »Es ist meine Pflicht.«
    Das hielten sie für Bescheidenheit, aber es war einfach die Wahrheit gewesen. Die Pflicht bedeutete für Ada alles.
    Ada hatte sie großgezogen, das hielt Rosamund ihr zugute. Aber ihre Erziehungsmethoden hatten aus einer anderen Zeit gestammt, in der Frauen gut verheiratet wurden, wenig zu sagen hatten und zum Ruhm ihrer Männer beitrugen. Während Rosamund in der Bibliothek ruhig ihre Hausaufgaben gemacht hatte oder laut vorgelesen hatte, sodass Ada ihre Aussprache korrigieren konnte, saßen andere Kinder vor dem Fernseher oder spielten mit Barbiepuppen.
    Adas Charakter war eine seltsame Mischung aus Spießertum und Exzentrik gewesen.

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