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Der Fluch von Colonsay

Titel: Der Fluch von Colonsay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaye Dobbie
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ganz anderen Grund für Ambrosines Anordnung geben könnte, dass sie den Tee servieren sollte.
    Ihr Herz begann ängstlich zu pochen. Ich weiß Bescheid, dachte sie. Mich können Sie nicht zum Narren halten, Madam. Ich weiß Bescheid. Und Sie haben Angst vor mir, nicht wahr? Sie haben Angst, dass ich etwas verraten könnte.
    Bei ihrem letzten Besuch in der Bibliothek hatte sie im Wörterbuch das Wort omnipotent nachgeschlagen. Ja, allgewaltig, so fühlte sie sich in diesem Augenblick.
    Ambrosine blickte nicht von ihrem Brief hoch, als Alice klopfte und eintrat. Sie trug ein grünes Kleid mit Stehkragen und einen passenden grünen Bolero mit dunklem Besatz. Die Farbe hob ihre Blässe hervor. Cleo beobachtete sie von Ambrosines Schoß aus, ein cremefarbenes Fellbündel mit glänzenden Augen.
    Im Wohnzimmer war es sehr warm. Das Feuer in dem kleinen Kamin brannte, obwohl Alice das für unnötig hielt. Die Sonne schien durch die Fenster, fiel durch die Spitzenvorhänge auf den polierten Fußboden und die Teppiche in leuchtenden Farben. In einer großen Vase welkten weiße Rosen.
    Alice stellte das Tablett auf einem Tisch ab und blickte zu Ambrosine hinüber, die auf dem Sofa saß, immer noch versunken in ihren Brief. Er kam von ihrem Bruder, der in Südafrika gegen die Buren kämpfte – Alice hatte die Briefmarke gesehen, als sie die Post geholt hatte.
    Mrs Gibbons hatte letztes Jahr einen Bericht aus der Zeitung vorgelesen, der von den Soldaten dort drüben und den Taten von Ambrosines Bruder in der Schlacht von Elands River handelte. Wie es schien, besaßen die Buren kein Ehrgefühl. Sie kämpften nicht wie britische Gentlemen, sondern versteckten sich und fielen den Feind aus dem Hinterhalt an. Kein Wunder, dass General Kitchener beschlossen hatte, sie auszuräuchern und auszuhungern wie wilde Tiere.
    »Danke, Alice.« Ambrosine faltete den Brief so sorgfältig zusammen, als ob diese Tätigkeit von großer Bedeutung wäre. Alice nahm die Gelegenheit wahr und zog Berties Buch heraus.
    »Madam, ich möchte Ihnen …«
    Ambrosine sah auf. Alice sah die Schatten unter ihren Augen, war sich allerdings unsicher, was diese verursacht haben könnte. Sie hielt ihr das Buch hin. Dabei fühlte sie sich gar nicht so allgewaltig, wie sie sich das vorgestellt hatte. »Master Bertie hat das vergessen, Madam. Vielleicht braucht er es in der Schule.«
    Ein kaum merkliches Runzeln flog über Ambrosines Stirn. Sie nahm Alice das Buch aus der Hand, blätterte es kurz durch und schlug die Seiten mit der gleichen Sorgfalt um, die sie ihrem Brief gewidmet hatte.
    »Bertie ist ein sehr netter Junge«, sagte sie schließlich mit einem seltsamen kleinen Lächeln um den Mund.
    »Madam?«
    »Bertie behauptete, dass alle Vögel und Säugetiere dem Ge-setz der Natur unterworfen sind. Nur die Besten und Stärksten überleben, wie Mr Darwin verkündet hat. Gilt dasselbe für die Menschen, Alice? Muss alles dem Überlebenstrieb untergeordnet werden? Wo finden dann Musik, Kunst und Literatur ihren Platz? Für einige von uns sind sie so wichtig wie das tägliche Brot und ein Dach über dem Kopf. Und was ist mit der Liebe? Kann man ohne sie überhaupt existieren?«
    Alice fragte sich, ob mit Ambrosine alles in Ordnung war. Das merkwürdige Lächeln wurde von einem wilden, fast gehetzten Blick abgelöst.
    »Mein Gatte erzählt mir häufig, dass ihm dein Vater das Leben gerettet hat.«
    »Ja, Madam, das hat er getan.«
    »Aus diesem Grund würde er dich niemals entlassen, Alice.«
    Alice reckte ihr Kinn. »Das weiß ich, Madam.«
    Ambrosine lachte auf und schlug sich sofort die Hand vor den Mund. »Du weißt das? Was weißt du denn noch alles, Alice?«
    Das war die Gelegenheit zu erzählen, wie Bertie sich fühlte, wie unglücklich er war und wie schlecht es ihm ging. Aber bevor sie den Mund aufbekam, hatte Ambrosine etwas auf den Tisch gelegt. Alice starrte darauf; ihr Stutzen wandelte sich in Erstaunen. Es handelte sich um eine Fünf-Pfund-Note, ebenso sorgfältig zusammengefaltet wie der Brief von Ambrosines Bruder. Das war mehr Geld, als Alice je zuvor in ihrem Leben gesehen hatte.
    »Ist es das, was du willst?«, flüsterte Ambrosine mit hellem, flammendem Blick.
    »Ich brauche neue Stiefel«, sagte Alice langsam, als wären die Worte ungewohnt für sie. Ihre Lippen fühlten sich dabei steif und seltsam an.
    Ambrosine zerrte an ihrem steifen Kragen. »Dann nimm das Geld und kauf dir welche.«
    Alice zögerte.
    »Nun nimm schon!«
    Cleo kläffte.

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