Der Fluch von Melaten
sie... sie... kann es nicht sein. Sie heißt auch nicht Sibilla. Es war ein Geist, ein Gespenst, aber es wollte etwas von mir, denn ich bin ihm wichtig gewesen, sehr wichtig sogar.«
»Ja, das habe ich erlebt«, sagte ich mit leiser Stimme. »Sie haben sich völlig anormal verhalten.«
»Ich weiß nicht, was ich getan habe.«
Das glaubte ich ihm sogar. Er ließ mich los und ging mit kleinen Schritten auf und ab. Dabei hielt er den Blick zu Boden gerichtet, wie jemand, der stark nachdenkt. Als er nach einer halben Drehung stehen blieb, schaute er auf das Aids-Grab, als läge dort die Lösung verborgen. »Sie ist weg, aber sie ist noch da«, flüsterte er und nickte. »Ich weiß es. Sie hat sich nur aus der Nähe zurückgezogen, aber ich spüre ihre Anwesenheit, auch wenn sie schwächer geworden ist.«
Ich blieb dicht hinter ihm stehen. »Spricht sie zu Ihnen? Übermittelt sie Ihnen eine Botschaft?«
»Nein.«
»Können Sie sich einen Grund vorstellen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, John.« Justus Schmitz redete jetzt wieder mit normal klingender Stimme. »Ich bin überfragt, aber wenn ich ehrlich sein soll, dann muss ich Ihnen sagen, dass es mir jetzt wieder besser geht.«
»Inwiefern?«
»Ich fühle mich erlöster, befreiter.« Er drehte sich zu mir um und deutete dabei auf seine Brust und auf den Kopf. »Im Moment ist nichts mehr in mir, aber ich weiß genau, dass es noch nicht vorbei ist. Da bin ich mir völlig sicher.«
»Gut. Was Um wir?«
Er sah aus, als wollte er mir eine negative Antwort geben, aber die verbiss er sich. »Ich kann nicht hier bleiben, ich will noch weiter...«
»Zu Ihrer angeblichen Mutter?«
»Ja, ja. Sie ist hier.«
»Und Sie wissen auch, wo Sie sie finden können?«
Justus überlegte, bevor er schließlich nickte. »Ich glaube schon, dass ich es weiß.«
»Dann sagen Sie es mir.«
»Im alten Teil des Friedhofs«, flüsterte er. »Nahe der Mauer, wo auch die Kapelle errichtet wurde. Da hat man noch vor dem Bau des Friedhofs die Menschen hingerichtet. Dort siechten die Seuchenkranken dahin, und dort sind von der Inquisition auch die Hexen verbrannt worden. Da hat man sie dem Feuer übergeben.«
Das hörte sich interessant an, und ich fragte weiter. »Dann gehen Sie davon aus, dort auch diese angebliche Sibilla zu finden?«
»Ja, ja...«
»Wie kommen Sie darauf?«
Er zuckte die Achseln. »Ich kann es Ihnen nicht erklären, John, es ist einfach so.«
»Okay, wie Sie meinen. Wir werden es versuchen.«
Ich wollte schon gehen, aber Justus Schmitz blieb noch stehen. »Wissen Sie, John, wovor ich Angst habe?«
»Nein, das weiß ich nicht, aber Sie werden es mir bald sagen.«
»Ja, das stimmt. Ich habe einfach Angst davor, sie nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen...«
»Das kann ich verstehen.« Ich klopfte ihm leicht auf die Schulter, um ihm einen ersten Trost zu geben. »Aber Sie brauchen sich nicht zu fürchten, denn ich kenne mich ein wenig mit diesen Geschöpfen aus.«
»Ja, das hoffe ich...«
***
Ernst Wienand lag auf der Erde und war bis dicht an einen der alten Grabsteine herangerollt. Er hatte sein Gesicht nicht mehr anheben können, und so spürte er deutlich das Gras und das alte Laub, das an seinem Gesicht klebte. Er nahm auch den Geruch wahr und merkte, dass sich auf seinen feuchten Lippen kleine Erdkrumen gesammelt hatten, die er ausspie, als er sich zur Seite drehte.
Dann richtete er sich auf.
Er war allein. Das erkannte er auch im Sitzen. Er spürte die Feuchtigkeit, die vom Mauerwerk der Kapelle oder auch von den Grabsteinen ausging, und drehte den Kopf, als ihn die Erinnerung mit aller Macht überfiel.
In seiner Umgebung war es menschenleer. Er sah auch keinen Geist. Er hörte keine Stimme. Er spürte auch nicht die Kälte einer anderen Welt in sich eindringen, die Umgebung war wieder normal. Nichts wies darauf hin, dass hier etwas Unheimliches und Unerklärliches geschehen war, aber das genau hing in seinen Gedanken fest, die ihn erwischten wie ein Überfall.
Er war jetzt froh, auf dem feuchtkalten Boden zu sitzen, denn was er erlebt hatte, das konnte er mit seinem normalen Verstand nicht fassen. Es gab eine Mutter, eine zweite Mutter, eine Mutter, die nichts anderes als ein Geist war.
Marietta!
Er hätte über diesen Namen gelacht. Er hätte auch gelacht, wenn ihm das jemand gestern gesagt hätte, aber er lachte jetzt nicht, sondern blieb sitzen und spürte, wie ihn Hitze und Kälte zugleich erfassten und als Schauer
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