Der Fluch
Ferienhaussiedlung in Huntington Beach.
Alle waren auf der Flucht. Durch das Badezimmerfenster konnte ich beobachten, wie unsere Nachbarn, die Wilfords, in Panik das Gepäck in ihren SUV luden. Sie würden nicht weit kommen. In den Nachrichten hatten sie die Autoschlangen gezeigt, die kreuz und quer die Straßen blockierten. Die Aufrufe der Polizei, Ruhe zu bewahren, zeigten keinerlei Wirkung.
Der Wind hatte wider Erwarten gedreht und an Stärke zugelegt, sodass die Rauchwolken in Richtung Meer getrieben wurden. Das Feuer riss alles mit sich, was sich in den Weg stellte. Die seit Tagen wütenden Waldbrände, noch gut fünfzig Kilometer entfernt, kamen immer näher. Sie hatten bereits über zweitausendfünfhundert Hektar Land vernichtet. Ein Gebiet von dreitausenddreihundert Hektar war evakuiert worden und nun drohte das Feuer, auch auf die Ferienhaussiedlung überzugreifen.
Die verbrannte Luft, die über dem Strand lag, war gesättigt von Asche, die wie ein sanfter Regen vom Himmel fiel. Vor dem Fenster verschmolzen die benachbarten Bungalows, der Uferweg und der Himmel zu einer dunkelgrauen Wand. Heute Abend würden Mom und ich das Haus verlassen, um nach Boston zurückzukehren. Ein Gedanke, der mir Angst machte.
Wäre nicht der Brief gewesen, der nun vor mir auf dem Waschbecken lag. Der Umschlag enthielt die Einladung an ein College, das viertausend Kilometer von Boston entfernt in Kanada lag, in der Nähe eines Ortes, der Fields hieß. Es kam mir vor, als bedeute dies eine andere Galaxie, aber die Vorstellung, nach Boston zurückzukehren, war einfach schrecklich. Dort war Matt, dort war J. F.
Verwirrt starrte ich den Brief mit dem Wappen an, unter dem dieser lateinische Spruch prangte: Felix qui potuit rerum cognoscere causas.
Glücklich, wer den Grund der Dinge erkennen kann.
Ich begriff zunächst nicht, was der Brief zu bedeuten hatte.
Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie am Grace College angenommen wurden. Das damit verbundene Stipendium im Bereich Kunst wird Ihnen für den Zeitraum von vier Jahren gewährt.
Das Versprechen auf einen Neuanfang. Dieses College lag in der Zukunft und in – wie ich glaubte – unerreichbarer Entfernung von der Vergangenheit.
Dort konnte ich tun, was ich mir am meisten wünschte. Malen. Irgendwie hatte sich in mir der Glaube verfestigt, Kunst würde bedeuten, Dinge für die Ewigkeit zu erschaffen. Darin lag eine gewisse Hybris. Irrational, aber er hielt mich in dieser Zeit aufrecht. Jeder, der ein Künstler sein will, muss an die Ewigkeit glauben. Der Gedanke stammte nicht von mir, sondern von Milena O’Neill. Sie gab zweimal im Jahr Kurse im Museum of Fine Arts in Boston. Ihre Bilder hingen in allen großen Museen Nordamerikas und sie versicherte mir immer wieder, ich sei unendlich begabt und dürfe mein Talent nicht verschwenden.
Seit Sallys Tod waren drei Monate verstrichen. Noch immer war diese Blockade in meinem Kopf, die verhinderte, dass ich mich damit auseinandersetzte.
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich sie im Stich gelassen hatte. Ich konnte den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht vergessen. Als hätte sie einfach aufgegeben. Als hätte sie kein Vertrauen in mich gehabt und schon gar nicht in die Welt.
Der Wasserhahn tropfte noch immer. Langsam machte dieses Geräusch mich wahnsinnig. Ich versuchte, ihn zum hundertsten Mal zuzudrehen. Einige Sekunden herrschte tatsächlich Stille und dann wieder plink – Pause – plink – Pause – plink .
Tropfen, die in mein Gehirn fielen. Ich musste mich beeilen. Ich nahm die Schere in die Hand und fixierte sie einige Sekunden – nein, es müssen Minuten gewesen sein. Dann hob ich den Kopf. Der Spiegel warf mein blasses Gesicht zurück. Ich versuchte, in meinen Augen zu lesen, was genau in mir vorging. Doch sogar ich erkannte meinen leeren Blick. Das strahlende Türkis meiner Augen war einem stumpfen Grau gewichen.
Es war nicht wirklich eine Entscheidung gewesen. Eher der verzweifelte Wunsch, mich zu verändern, auf eine Weise, von der ich glaubte, sie würde mich auf mich reduzieren. Mein Inneres nach außen kehren und mir immer wieder deutlich machen, dass dies einen Neuanfang bedeutete.
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ich glaube nicht, dass ich noch wirklich klar denken konnte. Ich handelte aus einem Impuls heraus und – ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber es war, als hätte ich etwas Wichtiges verstanden.
Ich wollte mich ansehen, wenn ich in Zukunft in den Spiegel
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