Der Fluch
blickte. Und dieses Bild sollte mich warnen.
Der scharfe Brandgeruch, der durch das gekippte Fenster hereinströmte, stach in meiner Nase und meine Augen tränten von der umherfliegenden Asche.
Die Schere fühlte sich gut an in meiner Hand. Kalt. Klar. Und dennoch vertraut.
Von draußen hörte ich, wie Mom nach mir rief. Sie kam an die Tür zum Badezimmer und klopfte: »Rose? Rose, bist du dadrin, Schatz? Wir müssen los.«
Als ich nicht antwortete, drückte sie den Griff der Tür nach unten.
»Rose, mach auf!«
Ich öffnete die Schere, schloss sie wieder. Metall traf auf Metall.
Eines wollte ich auf keinen Fall: Bitterkeit im Herzen – und Hass.
Und über allem schwebte die Stimme meiner Mutter, ihre verzweifelten Rufe, ihr Klopfen. Ich konnte die Angst in ihrer Stimme hören.
»Rose? Rose, mach auf.«
»Gleich, Mom. Ich bin gleich fertig.«
Meine Hände zitterten und mein Herz hämmerte, dennoch fühlte ich mich erleichtert, als ich die Schere hob und endlich den dicken Zopf, zu dem ich die Haare gebunden hatte, durchtrennte. Ich musste alle Kraft aufwenden. Aber ich konnte mich nicht mehr stoppen. Ein Schnitt folgte dem anderen. Ein Büschel nach dem anderen fiel und ich hörte nicht auf, mich dabei im Spiegel anzusehen.
Deine Haare sind wie Gold, hatte J. F. in mein Ohr geflüstert.
Die Schere an meinem Kopf. Ihre Kälte. Ihre Schärfe. Ich hörte auf zu denken. Bald waren die Haare überall. Nicht nur im Waschbecken. Auf dem Boden. Haare auf meinen Schultern, in meinen Augen. Ich fühlte sie auf der Zunge. In den Lungen. Ich atmete Asche und Haare.
Und wurde Schritt für Schritt zu einer Karikatur meiner selbst.
Nein, noch nicht fertig.
Ich packte den Rasierapparat meines Vaters und zögerte nur einen winzigen Augenblick.
Nicht nachdenken.
Nicht aufhören.
Ein klarer Schnitt. Das Zeichen setzen. Niemand würde mir mehr zu nahekommen.
Endlich schaltete ich den Apparat ein. Das surrende Geräusch war die Melodie, der ich folgte. Meine Mutter begann wieder, zu rufen und an die Tür zu klopfen. Ich hätte sie beruhigen können, aber ich tat es nicht. Und ich schreckte nicht zurück, als der Rasierer über die empfindliche Haut glitt und eine Spur in die kurzen Stoppeln riss. Ich hörte das Kratzen, spürte die Klinge, die sich immer wieder in den restlichen Haaren verhakte. Dennoch, das Vibrieren, das leicht unangenehme Kratzen auf der Kopfhaut – irgendwie war es wie eine Befreiung.
Als ich fertig war, erkannte ich mich kaum wieder, aber ich erinnere mich, dass ich lächelte.
Ich sah zum Fenster hinaus auf die Ascheflocken, die vom Wind Richtung Strand geweht wurden. Dann nahm ich den Brief in die Hand. Ich hatte mich nicht an diesem College beworben. Die einzige Erklärung für die Einladung war, dass Mrs O’Neill mich vorgeschlagen hatte. Aber vielleicht sollte ich das Schicksal nicht so genau unter die Lupe nehmen.
»Rose? Rose, Liebes, was ist los?«
Endlich schloss ich die Badezimmertür auf und trat meiner Mutter gegenüber. Das Entsetzen in ihren Augen verriet mir, dass meine Entscheidung richtig gewesen war.
9. Rose
Eigentlich müsste der Siedepunkt des Wassers im Hochgebirge niedriger liegen als hundert Grad Celsius. Aber das Gegenteil ist der Fall. Das Wasser will einfach nicht kochen. Vielleicht liegt es an den Stromschwankungen, die hier im Tal mindestens einmal am Tag auftreten. Ich sollte mich daran gewöhnt haben, aber trotzdem treibt es mich in den Wahnsinn.
Ich überprüfe den Herd. Alles okay. Die Herdplatte glüht fast. Vermutlich muss ich einfach nur Geduld haben. Also greife ich nach dem Messer und beginne, die Tomaten für die Spaghettisoße zu zerkleinern.
»Rose?« Aus dem Vorraum höre ich Katies Stimme und gleich darauf steckt sie den Kopf zur Tür herein. »Was machst du hier?«
»Wonach sieht es aus?«
Katie tritt an den Tisch, greift nach einer Tomatenscheibe und steckt sie sich in den Mund.
Ich klopfe ihr auf die Finger. »Wie wäre es, wenn du selbst einmal kochen lernst? Dann musst du dich nicht die ganze Zeit von Rohkost ernähren.«
»Kochen? Genies müssen nicht kochen können.« Wieder greift Katie nach einer Tomatenscheibe. »Was war das eigentlich gestern Abend im Club?«
»Was meinst du?«, frage ich, obwohl ich es nur zu genau weiß. Nur habe ich darauf keine Antwort. Das Erlebnis steckt mir immer noch in den Knochen. Es ist der eigentliche Grund, die Mensa zu meiden. Ich will heute O’Connor und Sam aus dem Weg gehen, genauso wie diesem
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