Der Fluch
Phänomen zu verstehen. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Furcht, das Unfassbare könnte sich jederzeit auflösen und einfach verschwinden, mich mit dem Gefühl zurücklassen, ich hätte nur fantasiert. Ich rechnete damit, das Ganze sei nur ein Spiel meiner Einbildungskraft als Folge der Einsamkeit hier oben, die mich vielleicht den Verstand kostete.
Ich stolperte mehr, als dass ich ging, rutschte den Abhang hinunter und unten am Ufer angelangt, überfiel mich plötzlich eine tiefe Sehnsucht, weiterzugehen, einfach über die glänzende Wasserfläche zu laufen. Es war, als zöge mich das Licht in die Tiefe hinein. Doch im letzten Augenblick blieb ich stehen. Ich lauschte auf die Stimmen, die plötzlich um mich herum einsetzten und flüsterten: Das ist das Tal des Todes. Des Todes. Des Todes.
Dead Valley, 01. November 1908 Noch immer fühle ich in mir eine unbeschreibliche Leichtigkeit. Es ist, als ob ich schwebe. Der Zustand lässt sich mit nichts vergleichen. Alles, was ich denke, unterliegt keiner Kontrolle des Verstandes mehr.
Ich schiebe das Erlebnis in der Nacht auf die Wirkung der Pilze. Ich glaube fest daran, dass sie mein Bewusstsein erweitern und die Sinne schärfen für eine andere Wirklichkeit. Doch noch immer haben sie mir nicht diese Art von Erkenntnis zuteilwerden lassen, wie ich sie nach dem Pilzritual des Schamanen erlebt habe.
Der Verstand ist nicht der Weg, dieses Tal zu begreifen. Ich beginne zu begreifen, dass das Tal seine Geheimnisse nur preisgibt, wenn es will.
Dead Valley, 05. November 1908
Das Wetter hat heute umgeschlagen. Zum ersten Mal überzieht eine dünne Schneeschicht das Tal. Dunkle Wolken stürzen die Felswände hinunter und bringen die Kälte des darüberliegenden Gletschers mit sich, den ich Never Summer Fields genannt habe. Aber ich habe schon lange nicht mehr an meiner Karte gearbeitet, genauso wie ich es inzwischen vollständig aufgegeben habe, das Tal nach wissenschaftlichen Kriterien zu erforschen. Stattdessen wandere ich Tag für Tag durch die Gegend auf der Suche nach dem Licht, das sich mir nicht mehr zeigen will.
Ich ernähre mich fast nur noch von den Pilzen. Sie scheinen jedes Hungergefühl zu unterdrücken und ich verbrauche weniger Vorräte. Das bedeutet, ich kann länger hier oben bleiben, als ich geplant und erwartet habe. Zudem scheinen sie mir eine ungeheure Energie zu verleihen. Ich sehe die Welt mit anderen Augen als zuvor und kann mir nicht mehr vorstellen, woanders zu sein.
14. Rose
Das frühlingshafte Wetter von gestern ist einem regnerischen, kalten Tag gewichen. Es kommt mir vor wie eine Warnung. Ich habe keine Ahnung, wie ich diesen neuen Tag überstehen soll.
Meine Stimmung ist verzweifelt. Diese Nacht war ein einziges Trauma. Ich lag die ganze Zeit da und wagte es nicht, die Augen zu schließen. Obwohl alle Türen abgeschlossen waren, rechnete ich jeden Moment damit, jemand würde durch das Apartment schleichen. Ja, ich konnte in der Dunkelheit sehen, wie sich der Griff an meiner Tür bewegte. Schatten zeichneten sich an der Wand ab. Bei jedem Geräusch schreckte ich schweißgebadet hoch und griff nach meinem Handy.
Und jetzt, als endlich die Nacht dem Tag gewichen ist, sei er auch noch so trist, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als einfach liegen zu bleiben und mir die Decke über den Kopf zu ziehen. Aber noch während ich das denke, schiebt sich die seltsame Nachricht in den Vordergrund, und dann der Gedanke, dass jemand hier auf dieser Decke gelegen hat. Auch das eine Botschaft. Und alles zusammen fühlt sich so gruselig an, dass ich sofort aufspringe und mich in die Küche flüchte. Hier bleibe ich eine Weile einfach auf dem Stuhl sitzen und starre in die Luft. Ich schaffe es nicht, mir einen Kaffee zu kochen, geschweige denn etwas zu essen.
Genauso gut könnte ich mich in einem schalldichten Raum befinden. Und die einzigen Geräusche sind mein Atem, das Rauschen in meinen Ohren und unzählige Gedankensplitter, die sich in mein Gehirn bohren.
Was tut man, wenn man allein ist – voller Furcht – und niemand ist da, der einem hilft? Ich weiß es einfach nicht. Ich war noch nie in so einer Situation. Das mit J. F. war anders. Das war keine lange quälende Angst, das war pures Entsetzen. Eine Schockstarre, die die Ereignisse hinter einer Mauer des Vergessens verbarg.
Und später bei Sally habe ich nur eine unheimliche Leere empfunden, die mich in die Einsamkeit trieb. Damals habe ich mich wochenlang in mein
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