Der Fluch
habe noch nie verstehen können, warum Julia kein Handy hat, aber jetzt treibt es mir Tränen des Zorns in die Augen. Bitte! Sei wenigstens online. Einmal!
Vor Nervosität beginne ich, auf meinen Fingernägeln zu kauen, was ich seit Jahren nicht mehr gemacht habe. Von Ben hab ich eine neue Nachricht, aber ich habe jetzt keine Zeit und keine Nerven für seine Witze. Und er ist mit Sicherheit der Letzte, dem ich mich anvertrauen will.
Keine Julia.
Nicht online.
Ich überlege nur eine Sekunde. Doch dann kommt mir der Gedanke, dass es keine Rolle spielt, ob sie mitliest oder nicht. Es geht nur darum, jemandem die Ereignisse der letzten Tage zu berichten. Jemanden zum Zeugen zu machen, um mich nicht länger alleine und ausgeliefert zu fühlen.
Ich will gerade anfangen zu tippen, als der Signalton ertönt: Neue Nachricht.
Absender: Sally.
Sally.
Ich muss mich zwingen, die Maus zu bewegen.
Wie das Wasser auf der Oberfläche des Spiegelsees zieht die Vergangenheit ihre Kreise um mich. Und sie werden immer enger.
Es ist keine Nachricht, die ich erhalte, sondern ein Foto. Ich erinnere mich nicht daran, wie es entstanden ist. Ich habe es noch nie gesehen. Aber ich bin eindeutig darauf zu erkennen.
Die Aufnahme wurde am achtzehnten Geburtstag von J. F. gemacht, während der Party im Haus seiner Mutter.
Es war der Abend, der alles veränderte, und jemand war Zeuge. Jemand, der mir hier hoch in das Tal gefolgt ist und der es nun darauf anlegt, dass ich diesen elften August nicht vergesse.
Auf dem Foto stehe ich zusammen mit J. F. am Swimmingpool. Matt und seine neue Freundin Addison tanzen eng aneinandergeschmiegt im Hintergrund. Ich trage einen Rock, der gerade nur so meine Hüften bedeckt, und ein trägerloses Top. Daran, dass es immer heruntergerutscht ist, erinnere ich mich. Auf einen BH hatte ich verzichtet.
Der Rock war neu, ich hatte ihn speziell für diese Party gekauft. Dazu die silbernen High Heels, die ich Mom aus dem Schrank geklaut habe und die sie später seltsamerweise nie vermisst hat. Ich wollte gut aussehen für Matt, der mich gar nicht beachtet hat.
Eine Sekunde oder zehn Minuten? Wie viel Zeit vergeht, in der ich das Foto betrachte? Es spielt keine Rolle, weil die Zeit völlig von meiner Angst überdeckt wird, die das Einzige ist, was noch zu existieren scheint. Schweiß läuft mir den Rücken hinunter und mein Herz trommelt so laut, dass ich nichts sonst mehr wahrnehme als die chaotische Abfolge dumpfer Schläge.
Das zumindest bilde ich mir ein, bis ich verstehe, dass das Geräusch von dem Regen kommt, der gegen die Scheiben schlägt.
Mit dieser Erkenntnis meldet sich langsam mein Verstand wieder zu Wort. Wer hat dieses Foto gemacht? Und warum kann ich mich nicht daran erinnern?
George kommt mir in den Sinn.
George, der von dem Drink wusste, sich an den Bourbon erinnerte und der in derselben Straße wie J. F. wohnt.
Ich höre kein Geräusch, das Prasseln des Regens am Fenster ist zu laut. Aber ich spüre es an dem feinen Kribbeln im Nacken. Ein sanfter Luftzug streift mich. Ich merke, wie sich alles in mir anspannt, wie ich Mühe habe zu atmen und sich in meinem Innern ein lautloser Schrei bildet.
Ich bin nicht mehr allein.
Jemand ist mit mir in diesem Raum.
Er steht hinter mir und beobachtet mich.
Langsam, wie in Zeitlupe, drehe ich mich um. Ich habe mich nicht getäuscht. Im Lichtschein des Monitors zeichnet sich eine schmale Gestalt ab. Es ist Muriel.
»Was tust du hier? Was willst du von mir?« Die Fragen brechen erst aus mir heraus, als der stumme Schrei in mir verebbt und ich endlich meine Stimme wiederfinde.
Doch sie antwortet auf keine von ihnen. Ihr Blick gleitet über mich hinweg und ich begreife langsam, dass es das Foto auf dem Bildschirm ist, das sie in den Bann zieht. Selbst im Halbdunkel kann ich sehen, wie sie die Augen zusammenkneift. Wie ihr Gesichtsausdruck sich verändert.
»Muriel?«
Sie rührt sich nicht. Etwas auf diesem Foto verschlägt ihr die Sprache, ja lässt sie regelrecht zu Stein werden. Bin ich es oder jemand anders? Jemand, den sie auf dem Foto erkennt? War sie selbst auf dieser Party?
Muriel weiß etwas. Ich sehe es an ihrem Gesichtsausdruck. Diese Mischung aus Angst, Misstrauen und unverhohlener Abscheu.
Ich springe auf.
»Muriel. Kennst du dieses Foto?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Aber warum … warum verfolgst du mich? Was willst du von mir?«
Endlich wendet sie den Kopf und sieht mich direkt an. »So ist das nicht.«
»Was? Wovon sprichst
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