Der Fluch
du?«
»Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich weiß es einfach nicht«, flüstert sie. Ihre Augen beginnen zu flackern. Plötzlich wirkt sie fahrig, geradezu verzweifelt. »Ich muss mit dir sprechen, Rose. Aber ich muss erst sicher sein …«
»Was?«
»Ob ich dir vertrauen kann. Wir müssen uns vorher kennenlernen.«
»Vorher? Was meinst du damit?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, nicht hier. Nicht jetzt.«
»Warum nicht?«
»Wir müssen uns irgendwo allein treffen, wo uns niemand zusammen sehen kann.«
Ich verstehe immer weniger, aber es ist offensichtlich, dass sie furchtbare Angst hat. Angst, die nicht gespielt ist.
»Kennst du die Hütte am Südufer?«
Ich erinnere mich, wie Julia mir einmal von der Hütte erzählt hat. »Ich war noch nie dort«, entgegne ich.
»Sie ist leicht zu finden. Du biegst vom Ufer nach oben in Richtung Sperrzone ab und folgst dem Weg. Halte dich einfach nur rechts. Wir treffen uns dort. Da sind wir sicher.«
Ich frage nicht, wovor wir sicher sind. Ich frage nicht, vor wem wir sicher sind. Ich frage: »Wann?«
»In einer Stunde.«
In einer Stunde beginnt die Dämmerung. Aber das ist mir in diesem Moment egal.
Ich möchte einfach nur erfahren, wie es möglich sein kann, dass ein Ereignis, das zwei Jahre zurückliegt und Tausende von Kilometern weit weg passierte, hier und jetzt seine Fäden spinnt.
15. Rose
Boston, zwei Jahre zuvor
Es gibt ein Davor und ein Danach und dazwischen einen dunklen Fleck, in dem sich mein Leben veränderte.
Es war eine normale Sommerparty oder besser – sie war für alle anderen normal – nur für mich nicht. Ich würde Matt zum ersten Mal, seit er Schluss gemacht hatte, begegnen. Und wie mir angebliche Freunde zugetragen hatten, würde er nicht alleine kommen. Was im Klartext hieß: Er hatte eine Neue. Ihr Name war Addison.
Ich brauchte zwei Stunden, bis ich entschieden hatte, was ich anziehen sollte. Mom hätte mich nicht aus dem Haus gehen lassen, hätte sie mein Outfit zu Gesicht bekommen. Und das nicht nur, weil ich ihre High Heels aus dem Kleiderschrank geklaut hatte – die mit den silbernen Riemchen. Die Schuhe passten perfekt zu dem kurzen Rock, den ich tags zuvor gekauft hatte. Er ging mir nur knapp über die Oberschenkel und ich hatte zunächst im Geschäft gezögert, hatte dann aber nicht widerstehen können. Er war mir einfach passend für die Gelegenheit erschienen, absolut geeignet für das, was ich vorhatte.
Wie gesagt. Mom hätte mich nicht aus dem Haus gehen lassen. Sie hätte mich gezwungen, den Rock auszuziehen. Aber Mom kam an diesem Abend zehn Minuten zu spät. Sie hatte auf der Longfellow Bridge im Stau gestanden und vielleicht wäre wirklich alles anders gewesen, hätte sie mich in dem Rock gesehen. Oder vielleicht wünsche ich mir das auch nur – vielleicht war alles so vorbestimmt. Man kann nun einmal nicht einen Tag, eine Stunde, eine Minute einfach aus seinem Leben löschen, um es mit einer neuen Variante zu probieren.
Als ich kam, war die Party bereits in vollem Gange. Es waren wohl an die sechzig Leute, die sich im Garten und am Swimmingpool niedergelassen hatten. Die riesige Villa, in der J. F. allein mit seiner Mutter lebte, war hell erleuchtet. Überall hingen bunte Lampions und laute Musik dröhnte über das Grundstück. Der Alkohol floss reichlich. Ich kannte niemanden außer Matt und J. F.
Ziellos überquerte ich in den High Heels, die eine Nummer zu groß waren, den Rasen. Und stieß ausgerechnet auf Matt. Matt und Addison. Sie lehnte an einem Ahornbaum, lachte und er beugte sich über sie.
Und ich fühlte diesen Stich in meinem Herzen. Meine Hände schwitzten. Dieser Kuss schien ewig zu dauern. Ich zählte die Sekunden und gab bei zweiundsechzig auf.
In diesem Moment war J. F. neben mich getreten und meinte: »Schau einfach nicht hin, Rose.«
»Dann höre ich, wie sie lacht.«
»Halt dir die Ohren zu.« Er grinste und reichte mir ein dunkles Getränk. »Und trinke.«
Ich hielt die Nase an das Glas und roch daran. Dann verzog ich das Gesicht. »Was ist das denn?«
»Bourbon. Kentucky Straight Bourbon Whiskey. Dreiundvierzig Prozent.«
»Willst du mich vergiften?«
»Nein, ich will, dass du ihn …«, er deutete auf Matt, ». . . endlich vergisst.«
»Indem ich mich betrinke?«
Er zuckte mit den Schultern und lachte. Irgendwie verwegen, wie ich fand. Und weil Matt meine Gefühle verletzt hatte – mit voller Absicht, wie ich meinte –, beschloss ich, das Angebot anzunehmen. Ich
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