Der Fluch
jeden Zweifel sicher fühle. Und: Wenn es zum Prozess kommt, wird es sowieso die ganze Welt erfahren.
Ich greife zu meinem Handy. Ein Tastendruck und ich sehe, dass ich heute Morgen einen Anruf verpasst habe, dessen Nummer nicht angezeigt wird. Egal. David ist jetzt wichtiger. Ich rufe ihn an und lausche dem Tuten. Je öfter es sich wiederholt, desto nervöser werde ich. Als die Mailbox anspringt, breche ich ab und wähle die Nummer erneut.
Das Wasser bewegt sich leise, schlägt in leichten Wellen gegen das Ufer und spiegelt das Licht der tief stehenden Sonne.
Nichts. Keine Antwort. Ich muss zum Apartment der Jungs hoch.
Ich will gerade zum Collegegebäude zurückgehen, als das Handy plötzlich klingelt. Nein, es ist nicht David, der mich zurückruft, sondern … Mom. Ich überlege den Bruchteil einer Sekunde, ob ich den Anruf annehmen soll. Aber wenn sie mich nicht erreicht, wird sie es wieder und wieder versuchen.
»Rose«, sagt sie und bei dem Klang ihrer angespannten Stimme weiß ich, dass ich ihr nichts von den Vorfällen hier oben erzählen kann. Ihre Stimme klingt nervös und besorgt.
Mom gehört zu den besten und bekanntesten Anwälten Bostons und sie ist Mitinhaberin einer der renommiertesten Kanzleien. Sie hat normalerweise ihre Gefühle im Griff. Ihre Sachlichkeit, ihr Gerechtigkeitssinn, ihre Coolness – das alles sind Eigenschaften, die ich immer an ihr bewundert habe. Doch seit dem Tag, als ich ihr von Sally erzählt habe, hat meine Mom Stück für Stück ihre Haltung verloren und ist immer noch im Begriff, sich aufzulösen. Und das ist meine Schuld.
Bevor sie noch weitersprechen kann, frage ich: »Wie geht’s Dad?«
»Er vermisst dich … wie ich.«
»Ich vermisse euch auch.«
Eine lange Pause entsteht.
Ich höre sie seufzen: »Wie hältst du dich, mein Schatz?«
Ich wünsche, sie würde aufhören, mich so zu nennen. Es passt nicht mehr zu meiner Glatze.
»Gut.«
Gut – das ist ein Wort, das keine Bedeutung hat. Und Mom weiß das. Sie kennt mich.
»Du klingst nicht so.«
Sie hat recht. Aber was soll ich darauf antworten, ohne sie noch weiter zu beunruhigen?
»Was macht dein Studium?«
»Auch gut.«
Ich höre das Räuspern am anderen Ende und spüre, sie will mir etwas Wichtiges mitteilen. Ich bin nicht sicher, ob ich es wirklich wissen will.
»Hör mal, Liebes, es geht um den Prozess …«
Ich möchte nicht an den Prozess denken. Nicht jetzt. Gar nicht. Schon allein bei dem Gedanken schnürt es mir die Luft ab. Ich habe keine Ahnung, wie ich das aushalten soll.
»Was ist damit?«
»Positive Neuigkeiten.«
»Und?«
»Erstens: Der Termin steht fest. Er ist für den 10. Juli angesetzt.«
Zwei Monate. Nur noch zwei Monate. Die Ereignisse von vorhin treten in den Hintergrund und machen einem neuen Grauen Platz. In zwei Monaten muss ich nach Boston zurückkehren, J. F. gegenübertreten und werde immer Sallys Gesicht vor mir sehen, wenn ich ihn anblicke. Ich werde ihn hassen und jeder im Gerichtssaal wird diesen Hass spüren. Ich tue das für meine Eltern und ich weiß, ich werde das nicht aushalten.
»Und zweitens?«, frage ich automatisch.
»Wir haben eine Zeugin.«
»Eine Zeugin?« Soll ich mich freuen oder fürchten? »Eine Zeugin wofür?«
»Sie kennt ihn von früher. Sie klingt absolut glaubwürdig.«
»Was genau kann sie bezeugen?«
Ich spüre, wie Mom sich windet. »Ihre Aussage liegt nicht schriftlich vor. Noch nicht«, beeilt sie sich hinzuzufügen. »Aber unsere Chancen zu gewinnen steigen, wenn …« Sie bricht ab.
Was? Was werde ich gewinnen, wenn ich doch Sally schon verloren habe. Und was ist das für ein Gewinn, der beinhaltet, dass ich recht habe?
»Du weißt, ich will diesen Prozess nicht, Mom.«
»Du musst an unser Rechtssystem glauben, mein Schatz.«
»Das bringt mir nicht mein altes Leben zurück und auch nicht Sally.«
Aber Mom hört gar nicht zu. Sie will sich nicht damit auseinandersetzen. Sally ist tot und ich bilde mir ein, sie wäre erleichtert darüber. Natürlich ist sie das nicht. Ihre Liebe zu mir ist zu groß, als dass sie meinen Schmerz nicht nachempfinden würde. Sie steht immer … immer auf meiner Seite, egal was passiert. Das ist eine Sicherheit im Leben, die mich überhaupt das Ganze aushalten lässt. Und daher zögert sie auch bei ihrem nächsten Satz.
»Wir werden bei der Auswahl der Geschworenen sehr sorgfältig sein, nur … sie müssen einen guten Eindruck von dir haben und da wäre es besser …«
»Nein, ich werde mir die
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