Der Fluch
Haare nicht wachsen lassen.«
»Warum nicht?«
»Es ist noch nicht Zeit, Mom.«
»Zeit wofür?«
»Das kann ich dir nicht erklären.«
»Du hast lange genug gelitten.«
»Das kann nur ich entscheiden.«
»Dein Vater macht sich solche Sorgen.«
»Ich weiß.«
»Du musst versuchen …«
Ich denke an den Zettel und die Drohung, die er mir vermittelt.
Eine Lüge ist deine Schönheit.
Ein Fluch dein Lächeln.
Die Sanftheit deiner Stimme – einziger Betrug.
Wieder habe ich das eindringliche Gefühl, dass nur ich allein der Sache Einhalt gebieten kann. Und das fängt damit an, dass ich eine Entscheidung treffen werde, was diesen Prozess angeht. Ich habe es viel zu lange aufgeschoben. Es ist paradox, doch der Zettel, der mich eigentlich bis ins Mark erschreckt, hat mich aus meiner Betäubung gerissen.
»Mom.«
Sie hört gar nicht zu. »Es geht nicht darum, dass so etwas nicht mehr passiert, sondern …«
»Mom!«
Endlich schaffe ich es, sie zu unterbrechen.
»Was ist?«
»Ich möchte durch eine andere Kanzlei vertreten werden, Mom.«
»Was sagst du?«
»Ich will, dass du mir einen anderen Anwalt suchst.«
»Warum?«
»Du bist nicht objektiv.«
»Aber Schatz, ich werde dich ja nicht persönlich vor Gericht vertreten. Das darf ich gar nicht. Aber du weißt, welch große Stücke ich auf Izzy halte. Sie ist seit zwölf Jahren Partnerin in der Kanzlei. Sie ist die absolut Beste für dich.«
»Es ist immer noch deine Kanzlei, Mom. Izzy macht das, was du sagst. Du bist ihre Chefin. Und du bist befangen.«
Ich blicke auf den See, der plötzlich unruhig geworden ist. Zahlreiche Kreise bilden sich, die sich drehen. So etwas habe ich noch nie gesehen und für einige Augenblicke höre ich Mom gar nicht mehr, sondern bin nur noch fasziniert von diesem unglaublichen Bild. Bis ich auf die Idee komme, dass die tief stehende Sonne mich blendet und meine Augen eigene Bilder erschaffen. Eine eigene Version meiner Welt.
Und in diesem Moment bin ich mir endgültig sicher. Es ist tatsächlich so, als ob der See mir eine Antwort gibt. Es ist meine Entscheidung.
»Ich will einen anderen Anwalt, sonst werde ich die Anzeige zurückziehen, Mom.«
Das Schweigen am anderen Ende tut mir weh. Aber ich bin überzeugt, dieser Weg ist der richtige.
»Aber warum?«
Der Grund liegt auf der Hand. Es wird ihr nicht gelingen, die Sache durchzuziehen. Sie wird mich im Gerichtssaal leiden sehen. Und sie wird Izzy dazu bringen, die Spielregeln zu übertreten, wenn sie es nicht schon getan hat.
J. F. wird damit in die Hände gespielt und genau das will ich nicht. Wenn schon der Prozess, dann will ich ihm keine Chance geben. Nicht noch einmal.
Ich kann an Moms Stimme hören, wie verzweifelt sie ist. »Das werde ich nicht zulassen.«
»Du kannst nichts dagegen tun, Mom«, sage ich sanft.
»Überlege dir das doch noch einmal.«
»Bitte, Mom. Such mir einen geeigneten Anwalt. Ich weiß, dass du es kannst. Tu es für mich.«
Sie schweigt. Ich breche das Gespräch ab, ohne mich zu verabschieden. Bleibe einige Minuten so stehen, das Handy immer noch am Ohr, als hoffe ich, doch noch eine Antwort von ihr zu bekommen.
Während ich zurück zum Hauptgebäude laufe, versuche ich, Katie zu erreichen. Auch bei ihr nur die Mailbox. Ich überlege kurz, ob ich ihr eine Nachricht aufs Handy sprechen soll. Nein, ich verzichte darauf, mit einer Automatenstimme zu sprechen.
Wenig später bin ich oben beim Apartment der Jungs. Doch die Tür zum Hauptflur ist abgeschlossen, es ist niemand da.
Unten im Computer Department stoße ich nur auf zwei ältere Studenten, die von Buchstapeln umgeben vor ihren Rechnern hocken und wie wild in die Tasten tippen. Weder Robert noch David sind hier unten.
Im Fahrstuhl zurück in mein Stockwerk schließe ich kurz die Augen. Was nun?
Ich habe vorhin das Apartment völlig überhastet verlassen und habe jetzt Angst, dorthin zurückzukehren.
Aber es gibt keinen Grund für diese Angst, oder? Es ist noch nicht mal sechs Uhr abends, das College ist zwar ziemlich leer, aber nicht völlig verlassen – und es gibt immer noch den collegeeigenen Sicherheitsdienst, den ich jederzeit rufen kann.
Ehe ich es mir anders überlegen kann, laufe ich in unser Stockwerk, reiße unsere Tür auf, stürme durch den Vorraum auf mein Zimmer zu … und sehe den Zettel sofort … er klebt von außen an meiner Tür.
Diesmal reagiere ich nicht mit Panik. Es ist eher so, als ob sich Kälte in mir breitmacht, die mich umso schärfer denken
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