Der Fluch
zueinander stehen. Und überall sehe ich Wacholderbüsche, einige im langen Winter erfroren, andere zeigen bereits das erste frische Grün des Frühlings.
Meine Gedanken kreisen um denselben Punkt: Muriel und das, was sie über mich weiß. Wen sie auf dem Foto erkannt und was sie mir zu sagen hat.
Und ähnlich wie diese Fragen in mir lauern, sozusagen im Hinterhalt, so lauert auch die Dämmerung hinter den drei Gipfeln des Ghost. In etwa einer halben Stunde wird sie das Tal überziehen wie ein riesiger Schatten, hinter dem mich etwas anderes erwartet. Etwas, das mir Klarheit bringt. Hoffe ich.
Ich spähe nach vorn. Nach etwa hundert Metern gabelt sich der Weg. Links geht es hinunter zum Ufer und rechts steigt er langsam, aber stetig an. Ich schlage den rechten Pfad ein.
Der Regen hat aufgehört, aber der Boden ist noch so aufgeweicht, dass ich mit jedem Schritt versinke. Meine Schuhe werde ich nachher wegwerfen können. Ich stolpere mehr, als dass ich gehe, und ich bin permanent damit beschäftigt, mich zu orientieren, um nicht vom Weg abzukommen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht einmal, ob das wirklich ein Weg ist oder einfach nur so etwas wie eine Spur.
Warum will sich Muriel ausgerechnet hier draußen treffen? Das ist es, was mir einfach nicht aus dem Kopf will. Und ich frage mich zwangsläufig, ob ich nicht sehenden Auges in eine Falle laufe.
Bevor ich losgegangen bin, habe ich David eine SMS geschrieben, wohin ich gehe, genauso wie ich Julia über Facebook kontaktiert habe. Beide haben mir nicht geantwortet, aber es gibt mir ein Gefühl der Sicherheit, dass sie Bescheid wissen. Noch immer habe ich die Absicht, ihnen alles zu erzählen.
Meine Gedanken wandern wieder zu dem Foto, auf dem ich mit J. F. zu sehen bin, dahinter Matt und Addison.
Es kann kein Zufall sein, dass sich der Absender Sally nennt. Das ist Teil des Spiels. Jemand will mir unmissverständlich zu verstehen geben, dass er meine Geschichte kennt.
Nur wer?
Wer kennt überhaupt diesen Namen? Im Grunde wissen nur wenige Leute von Sally. Und die würden mir weder Fotos über Facebook schicken noch Botschaften in meinem Zimmer deponieren, um mich in den Wahnsinn zu treiben. Denn das ist ja wohl die Absicht. Jemand will den Punkt in mir treffen, an dem ich am verletzbarsten bin, ja geradezu schutzlos. Jemand schiebt vor meinen Augen die Puzzleteile ineinander, die zusammen ein Bild meiner Seele ergeben.
Ich erreiche eine Lichtung. Als die Bäume nicht mehr länger Schutz bieten, spüre ich den Wind. Ich ziehe die Daunenweste fester um meinen Körper und sehe mich um. Während links ein Felsplateau zum See hin abfällt, steigt der Weg rechts an und führt wieder in den Wald, der nicht länger licht ist, sondern deutlich dunkler wird.
Ich zögere, diese Richtung einzuschlagen. Stattdessen wende ich mich in Richtung Felsplateau, das ein Stück vorragt und von dem aus ich einen unglaublichen Blick über den See habe. Genau gegenüber sehe ich das Bootshaus liegen, links von mir den mächtigen Bau des historischen Collegegebäudes mit all seinen Schornsteinen, Giebeln und Balkons. Rechts ragt der Solomonfelsen in das Wasser.
Je länger ich auf die Oberfläche starre, die sich kaum bewegt, desto mehr kommt es mir vor, als hätte jemand den See auf dem Reißbrett entworfen. Ihn mit dem Zirkel in die Landschaft gezogen. Und dann plötzlich scheint es, als fließe das Wasser in der Mitte zusammen. Ich blinzele die Luftspiegelung weg, aber in diesem Moment kommt mir ein Gedanke, den ich so noch nie habe fassen können. Was, wenn das Rätsel nicht in dieser Landschaft liegt, sondern in einem selbst? Das Tal kann alles sein. Es spiegelt nur die eigene Seele wider. Es ist ein Ort, der einen mit sich selbst konfrontiert. Mit seinen Sehnsüchten, seinem Glück, seinen Ängsten.
Was allerdings auch heißt, dass man nicht weglaufen kann. Vor sich selbst kann keiner davonlaufen.
Ich drehe mich um und setze meinen Weg in Richtung Hütte weiter fort. Noch immer kann ich den See durch die Bäume hindurch schimmern sehen – doch zur Rechten kommen nun die schneebedeckten Gipfel zum Vorschein. Bisher habe ich vermieden, alleine im Gelände umherzustreifen. Ich bin nicht wie Katie. Im Gegensatz zu ihr suche ich nicht die Einsamkeit der Natur.
Aber jetzt habe ich keine Wahl. Ich muss zu dieser Hütte, muss Muriel sprechen, obwohl ich weiß, dass jemand hinter mir her ist.
Vielleicht sogar hier draußen.
Vielleicht sogar heute Abend.
Ich fahre herum und starre
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