Der Fluch
einem Stift. »Ich schreibe dir meine Handynummer auf«, sagt sie. »Falls irgendetwas ist, kannst du mich jederzeit anrufen.«
Sie schließt die Tür ganz sanft und lässt mich mit meinen Gedanken allein.
Ich betrachte den Zettel mit der Nummer, bevor ich ihn ganz klein zusammenfalte und in die Tasche meiner Jogginghose stecke. Dann stehe ich auf und trete ans Fenster.
Alles fühlt sich anders an als noch gestern Abend. Da ging es nur um mich und um die Vergangenheit. Um das, was mir zugestoßen war, und die Tatsache, dass ich davor weglief. Alles war eingehüllt in einen unwirklichen Nebel.
Aber jetzt ist Muriel gestorben und die Dinge sind plötzlich so real. Sie ist an dem Ort gestorben, an dem sie mich hatte treffen wollen.
Sie ist tot. Was wusste sie, was ihr gefährlich wurde? Woher kannte sie J. F.? Was hat sie auf dem Partyfoto gesehen, das ich gestern auf dem PC geöffnet habe?
Ich denke daran, dass die Polizei bestimmt ihr Zimmer durchsuchen und vielleicht Hinweise finden wird, die mich verdächtig werden lassen.
Aber was ist mit George?
Ich erinnere mich daran, was der Superintendent gefragt hatte: »Sind Sie jemandem begegnet?«
»Ja, George.«
»George, wer?«
»George Tudor, ein Student aus dem ersten Semester.«
»Was wollte er dort draußen?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Haben Sie miteinander geredet?«
»Nur kurz.«
»Aus welcher Richtung kam er?«
»Was?«
»Kam er aus Richtung der Hütte oder vom College?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
George hat behauptet, er wäre mir gefolgt. Aber er könnte genauso gut gelogen haben. Er tauchte wie aus dem Nichts zwischen den Bäumen auf. Kam er von rechts? Von links? Keine Ahnung.
Ich erinnere mich an die Flecken auf seinem weißen Hemd. Könnte das Blut gewesen sein? Er hätte Muriel überfallen können und war mir dann zufällig auf dem Rückweg begegnet.
Mir ist kalt. Schaudernd flüchte ich mich ins Bett und schlinge die Bettdecke fest um mich.
Aber dann überlege ich es mir doch anders.
Man kann vielleicht mit Fremden wie Mrs Jones leichter sprechen, da mag etwas dran sein.
Aber die Wahrheit – die ganze Wahrheit – kann man nur Freunden erzählen.
21. Rose
Die Küche ist dunkel und verlassen. Leere Becher stehen auf dem Tisch, ein Geruch von Kaffee hängt in der Luft.
Katie, David, Robert und Tim haben nach meinem Anruf bei David ihr Camp abgebrochen und sind mitten in der Nacht zurück zum College gewandert. Wie ihnen das in der Dunkelheit gelungen ist, kann ich mir kaum vorstellen, aber ich bin ihnen unendlich dankbar, dass sie diese Tortur auf sich genommen haben. Für mich.
Sie haben mich nicht allein gelassen.
Ihnen kann ich vertrauen.
Aber werden sie mich auch verstehen?
Einen nach dem anderen gehe ich durch und lande immer wieder bei David, den ich in der letzten Zeit viel zu selten zu Gesicht bekommen habe. Vor diesem ominösen Ereignis im Februar war das noch anders.
Und komischerweise merke ich erst in diesem Moment, dass nicht er es war, der sich vor mir zurückgezogen hat. Sondern es war umgekehrt. Ich wollte mir von ihm nicht das zerstören lassen, was das Tal für mich bedeutet. Ich wollte mir meinen Rückzugsort nicht nehmen lassen.
Jetzt weiß ich, dass ich genau das Falsche getan habe.
Aber es ist noch nicht zu spät.
Das Treppenhaus liegt in vollkommener Dunkelheit. Jedes Mal, wenn einer der Bewegungsmelder anspringt, zucke ich zusammen. Ich höre meine eigenen Schritte in den Korridoren widerhallen und erwarte jeden Augenblick, dass sich die Türen öffnen und mich alle anstarren.
Der Gedanke bewirkt, dass ich umso schneller die Treppen hinunterrenne. Das Apartment, das genau unter unserem liegt und das David zusammen mit Chris und Robert bewohnt, ist nicht abgeschlossen. Ich halte mich nicht damit auf anzuklopfen. Leise öffne ich Davids Tür.
Sein Zimmer wird von der Lampe auf dem Schreibtisch in ein düsteres Licht getaucht. David sitzt vor seinem Laptop. Er ist vollständig angezogen, wie immer komplett in Schwarz. Die Müdigkeit ist ihm anzusehen. Genau wie ich hat er noch kein Auge zugemacht.
»Warum schläfst du nicht?«, frage ich.
»Vermutlich aus demselben Grund wie du.« Und tatsächlich kann ich in seinem Gesicht dieselbe Anspannung lesen, die ich empfinde.
»Ich muss mit dir reden.«
Er nickt und sieht aus, als hätte er damit gerechnet, dass ich auftauchen würde. »Wie geht es dir?«
Ich setze mich auf sein Bett. »Nicht gut«, sage ich ehrlich. »Dass sie gestorben ist.
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