Der Fluch
die Kraft, mich dagegen zu wehren, obwohl ich mir wünsche, sie würden bleiben und die Nacht, die vor mir liegt, mit mir verbringen. Aber einer nach dem anderen verlässt die Küche, nicht ohne mir zu verstehen zu geben, dass sie jederzeit für mich da sind.
Nur Mrs Jones lässt nicht locker. Sie wartet, während ich dusche und in eine Jogginghose und einen warmen Pullover schlüpfe. Dann folgt sie mir in mein Zimmer.
»Wie fühlen sie sich?« Sie betrachtet mich besorgt.
Ich hole tief und atemlos Luft. »Ist schon okay.«
Sie lächelt mich an. »Es ist okay? Wirklich, Rose?«
»Ja.«
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen?«
Ich bemühe mich um ein Lächeln, das mir gründlich misslingt. »Nein, danke. Ich komme schon klar.«
»Oder wollen Sie vielleicht reden?« Mrs Jones erhebt sich und setzt sich zu mir aufs Bett. »Es ist wichtig, darüber zu sprechen, was Sie erlebt haben.«
Ich weiß nicht, ob das ein Reflex ist, aber ich antworte ihr, obwohl mir wirklich nicht danach zumute ist. »Ich sehe Muriel immer vor mir.«
»Das ist nur verständlich.« Mrs Jones legt ihre Hand auf meine, nicht länger als eine Sekunde, aber es ist, als ob ein Schalter in mir umgelegt würde. Vielleicht ist doch etwas daran, dass man mit einem Fremden leichter sprechen kann als mit Freunden. Plötzlich kann ich nicht mehr aufhören zu reden.
»Sie lag dort unten in diesem Loch, verstehen Sie? Ich habe erst gar nicht begriffen, dass dort ein Mensch liegt. Aber dann habe ich sie atmen gehört. Es klang einfach furchtbar. Es waren die Schmerzen, oder? Sie muss fürchterliche Schmerzen gehabt haben.«
»Ja.« Mrs Jones ist ehrlich zu mir und ich bin ihr dankbar dafür. Ich rede weiter, sage das, was ich glaube, was sie hören will.
»Sie hatte Angst. Und sie hat mich angesehen. Die ganze Zeit.«
»Und sie hat nichts gesagt?«
Ich zögere nur kurz. »Hätte ich Muriel retten können, wenn ich nicht in das Loch geklettert wäre, sondern gleich Hilfe geholt hätte?«
»Du hast nichts falsch gemacht. Das darfst du dir von niemandem einreden lassen.«
Die nächste Frage kommt mir schwer über die Lippen. »Sie ist nicht einfach so gestorben, oder? Jemand … jemand hat sie umgebracht.«
Mrs Jones holt tief Luft. »Das behauptet die Polizei.«
»Aber wer …«
Sie sieht mich direkt an. »Sie wissen es noch nicht. Aber du hast von George Tudor berichtet. Bist du sicher, dass er aus Richtung des Colleges kam?«
»Er stand plötzlich vor mir. Ich hab keine Ahnung, woher … und …« Ich breche ab.
»Was?«
»Nichts.«
»Was hat er zu dir gesagt?«
Ich schüttele den Kopf. Ich kann es ihr nicht erzählen.
»Die Polizei wird morgen noch mal mit dir reden. Also, wenn es irgendetwas gibt … wegen George …« Sie überlegt, dann setzt sie neu an. »Wusste er, dass ihr euch dort treffen wolltet?«
»Nein.«
»Wusste irgendjemand anders davon?«
»Es war Muriels Idee. Ich habe niemandem davon erzählt.«
»Du hast der Polizei gesagt, du hättest dich verspätet.«
»Ja.«
»Hast du dir schon einmal überlegt, dass …«, sie zögert, »dass jemand dort eigentlich auf dich gewartet haben könnte?«
Sie spricht den Gedanken aus, den ich bisher nicht zugelassen habe. Die Angst fühlt sich eisig an, als ob mein Kopf in Eiswasser getaucht würde. Wieder und immer wieder. Ich bekomme keine Luft mehr. Aber wenn ich das zugebe, wird sie weiter Fragen stellen.
»Warum sollte jemand …«
»George hat der Polizei gegenüber behauptet, er kennt dich von früher«, unterbricht sie mich.
»Ich weiß nicht, warum er so etwas behauptet. Ich habe ihn hier oben zum ersten Mal in meinem Leben gesehen.«
»Aber er stammt aus Boston wie du.«
»Ich bin ihm nie zuvor begegnet.«
Was eine Lüge ist. Er hat zugegeben, dass er auf J. F.s Party war. Dass wir uns begegnet sind. Woher sonst kann er sein Wissen haben? Nur kann ich mich nicht erinnern. Nicht an ihn, nicht an irgendetwas anderes. Es ist, als ob ich in dieser Nacht einfach einige Stunden übersprungen habe.
Was, wenn es George und gar nicht J. F. war, der …
»Rose.«
Mrs Jones’ Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Rose. Sag der Polizei einfach die Wahrheit.«
»Es ist die Wahrheit.«
Sie erhebt sich. »Dann ist es ja gut.« Und sie sieht so aus, als meint sie das auch so. Ich wundere mich, wie leicht es ist, jemanden zu täuschen. Und – schießt mir der Gedanke durch den Kopf – wie leicht man getäuscht werden kann.
Sie geht zum Schreibtisch und greift nach
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