Der Flug der Adler
Irgendwann war Harry das einzige
überlebende Mitglied des ursprünglichen Geschwaders. Und
dann, am 15. September, folgten die letzten großen Kämpfe:
vierhundert Jäger der Luftwaffe über dem Süden Englands
und über London gegen dreihundert Spitfires und Hurricanes.
Einen richtigen Sieger gab es
seltsamerweise nicht. Der Ärmelkanal blieb umkämpftes Gebiet,
und die Luftangriffe auf London und andere Städte wurden
fortgeführt, jedoch hauptsächlich bei Nacht. Hitlers
grandioser Plan für die Invasion Englands, Unternehmen
Seelöwe, wanderte in den Papierkorb. England stand jedoch
weiterhin allein da, während der Führer nun seine
Aufmerksamkeit Rußland zuwandte.
Anfang November regnete es in Berlin in
Strömen, als Heinrich Himmler aus seinem Wagen stieg und das
GestapoHauptquartier in der Prinz-Albrecht-Straße betrat.
Während er in der schwarzen Ausgehuniform des Reichsführers
der SS zu seinem Büro durchmarschierte, folgte ihm ein ganzer
Schwanz von Wachposten und Büropersonal. Er trug wie immer sein
silbernes Monokel, und seine Miene war so undurchdringlich wie eh und
je, während er die Marmorstufen zu seinen Büroräumen
erklomm, wo seine Sekretärin, eine Frau mittleren Alters in der
Uniform aufstand.
»Guten Morgen, Reichsführer.«
»Holen Sie mir Sturmbannführer Hartmann her.«
»Sofort, Reichsführer.«
Himmler ging in sein palastartiges
Büro, stellte seine Aktentasche auf den Schreibtisch und
öffnete sie. Dann holte er ein paar Unterlagen heraus, setzte sich
und sah sie durch. Es klopfte, und die Tür ging auf.
»Ah. Hartmann.«
»Reichsführer.«
Hartmann hatte eine ungewöhnliche Uniform an, die aus
Fliegerjacke und weiten Hosen bestand, die wie
die der Luftwaffe aussahen, aber in Feldgrau waren. Die Kragenspiegel
wiesen ihn als Major der SS aus, obwohl er das Pilotenabzeichen der
Luftwaffe trug und das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse
vorzuweisen hatte. Auf den Ärmelaufschlägen waren silberne
Schriftzeichen zu sehen: RFSS – Reichsführer SS. Diese
Ärmelaufschläge trug nur Himmlers Personalstab. Darüber
war ein SD-Abzeichen zu sehen, das darauf hindeutete, daß er
ebenfalls zum Sicherheitsdienst gehörte, dem Nachrichtendienst der
SS – eine beachtliche Kombination.
»Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Reichsführer?«
Hartmann, damals dreißig, war knapp eins
fünfundachtzig groß und hatte ein kantiges, durchaus
anziehendes Gesicht. Sein gebrochenes Nasenbein – Folge eines
Flugzeugabsturzes – verlieh ihm besonderen Schneid. Er trug sein
Haar, das mehr rot als braun war, kurzgeschoren wie ein Preuße.
Er war noch vor der Luftschlacht um England als Kampfpilot der
Luftwaffe bei einem Absturz in Frankreich schwer verwundet und
daraufhin zu den Heeresfliegern versetzt worden, um in
Fieseler-StorchAufklärern höhere Offiziere zu befördern.
Dort sollte ihm auch eines Tages eine seltsame Sache passieren.
Himmlers Besuch in Abbeville war
abgekürzt worden, aber die Junkers, mit der er abgeholt werden
sollte, konnte wegen schlechten Wetters nicht landen. Zufällig war
Hartmann, der einen General hergebracht hatte, mit seinem Storch auf
dem Flugplatz, und Himmler kommandierte ihn in seine Dienste ab.
Was dann geschah, war wie ein
böser Traum. Als er über die niedrig hä ngenden Wolken
und den Regen hinausstieg, wurde er von einer Spitfire angegriffen,
wobei die Tragflächen seines Flugzeugs von Kugeln zerfetzt wurden.
Er faßte all seinen Mut zusammen und tauchte noch einmal in das
Unwetter hinab. Die Spitfire saß ihm fest im Nacken. Die
nächste Salve zerschmetterte die Windschutzscheibe, und die ganze
Maschine wurde durcheinandergerüttelt.
»War's das für uns?« sagte Himmler seelenruhig.
»Nicht, wenn wir alles auf eine Karte setzen, Reichsführer.«
»Nur zu, ich bitte drum«, antwortete Himmler.
Hartmann war in den Regen und Nebel
hinabgetaucht, zweitausend Fuß, tausend Fuß, um dann bei
fünfhundert Fuß über offenes Gelände auszubrechen
und dort den Steuerknüppel wieder hochzureißen. Den Piloten
der Spitfire verließ der Mut, und er drehte ab.
Himmler, ein notorisch abergläubischer Mensch,
hatte wiederholt beteuert, daß er an Gott glaube, und er war auf
der Stelle davon überzeugt, daß Hartmann ein Werkzeug Gottes
war. Er ließ ihn gründlich durchleuchten und war ganz
begeistert, als er hörte, daß der junge Mann auf der
Universität in Wien die Doktorwürde der Rechtswissenschaft
erworben hatte. Das alles
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