Der Flug der Stoerche
ihrer Kranken kümmerten. Sie hatten vor allem Angst, daß einer ihrer Staatsangehörigen afrikanische Mikroben in ihr Land einschleppt.« Jesus verdrehte die Augen zum Himmel und wirkte pikiert. »Jedenfalls bestanden sie darauf, sämtliche Unterlagen mitzunehmen. Die Regierung war dagegen. Verstehst du, die Patienten waren zwar Schweizer, aber ihre Krankheiten waren afrikanisch. Kurz, es gab eine Menge Ärger .«
»Und dann?« fiel ich ihm ins Wort, grimmig vor Ungeduld. »Das, Chef, ist eine vertrauliche Angelegenheit. Die Verschwiegenheit des medizinischen Personals steht auf dem Spiel, und .«
Ich drückte ihm einen weiteren Zehntausendfrancsschein in die Hand. Er bedachte mich mit einem breiten Grinsen und fuhr sogleich fort: »Die Unterlagen sind in der italienischen Botschaft untergebracht.« Ich hätte eins zu hundert gewettet, daß diese Auslagerung dem alten Max entgangen war. Jesus fuhr fort: »Der Wächter der Botschaft ist ein Freund von mir. Er heißt Hassan. Die italienische Botschaft liegt am anderen Ende der Stadt, und .«
Ich durchquerte Bangui in einem schlingernden, dreckstarrenden Taxi. Zehn Minuten später stand ich vor der Freitreppe der italienischen Botschaft. Diesmal hielt ich mich nicht mit weitschweifigen Erklärungen auf. Kaum hatte ich Hassan gefunden - einen kleinen Mann mit violetten Schatten unter den Augen -, stopfte ich ihm einen Fünftausendfrancsschein in die Tasche und zerrte den Widerstrebenden in den Keller des Gebäudes. Kurz darauf saß ich in einem geräumigen Konferenzsaal, vor mir vier Metallschubladen mit den medizinischen Unterlagen der Schweizer Staatsbürger, die zwischen 1962 und 1979 nach Zentralafrika gekommen waren.
Sie waren tadellos in alphabetischer Reihenfolge geordnet. Unter dem Buchstaben B fand ich die Unterlagen der Familie Böhm. Die erste Akte gehörte Max: sehr umfangreich, enthielt sie eine Unmenge Rezepte, Analysen, Elektrokardiogramme. Schon am 16. September 1972, dem Jahr seiner Ankunft, hatte Böhm die französische Klinik aufgesucht, um sich vollständig untersuchen zu lassen. Der Chefarzt Yves Carl hatte ihm eine Behandlung mit Medikamenten verordnet, die direkt aus der Schweiz eingeführt wurden, und ihm Ruhe und Verzicht auf übermäßige Anstrengungen empfohlen. Für seine persönlichen Aufzeichnungen hatte der Arzt in schräger Füllfederschrift notiert: >Myokardinsuffizienz. Muß beobachtet werden.< Die letzten Worte waren unterstrichen. So war der alte Max alle drei Monate wiedergekommen, um sich untersuchen zu lassen und seine Medikamente abzuholen. Im Lauf der Jahre wurden die Medikamente immer stärker, die Dosen immer höher; Max Böhm lebte auf Widerruf. Die Unterlagen endeten im Juli 1977 mit der Verschreibung einer neuen Arznei in massiver Dosierung. Als Böhm im Monat darauf sich in den Dschungel aufmachte, war sein Herz nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Unterlagen über Irene Böhm begannen im Mai 1973 mit Kopien der Untersuchungsergebnisse aus der Schweiz. Dr. Carl hatte sich damit begnügt, die Patientin zu beobachten, die an einer Eileiterentzündung litt. Die Behandlung dauerte acht Monate. Dann galt Frau Böhm als geheilt, aber in den Unterlagen hieß es: >Sterilität<. Irene Böhm war damals vierunddreißig. Zwei Jahre später stieß Dr. Carl auf eine neuerliche Erkrankung: die Akte von Böhms Gattin enthielt die Durchschrift eines ausführlichen Briefes an den behandelnden Arzt in Lausanne, in dem von weiteren, dringend erforderlichen Untersuchungen die Rede war - es bestehe der Verdacht auf Gebärmutterkrebs, schrieb Dr. Carl. Es folgte eine heftige Klage über die Unzulänglichkeit der afrikanischen Kliniken und die lächerlichen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stünden. Abschließend legte er seinem Kollegen nahe, er möge auf Irene Böhm einwirken und ihr von allzu häufigen Besuchen in Zentralafrika abraten. Damit schloß die Akte, im Jahr 1976, ohne weitere Unterlagen oder Notizen. Aber ich kannte ja die Fortsetzung. Die Untersuchungen und Laboranalysen in Lausanne hatten einen fortgeschrittenen, inoperablen Gebärmutterkrebs ergeben, und Frau Böhm hatte es vorgezogen, in der Schweiz zu bleiben, auf Heilung zu hoffen und ihren Zustand vor ihrem Mann und ihrem Sohn geheimzuhalten. Ein Jahr später war sie tot.
Greifbar wurde der Alptraum mit den Unterlagen über Philipp Böhm, den endlich wieder aufgetauchten Sohn des Vogelkundlers. Bereits in den ersten Monaten nach seiner Ankunft hatte das Kind
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