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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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mehrere heftige Fieberanfälle erlitten. Es war zehn Jahre alt. Im nächsten Jahr mußte es sich einer langen Behandlung gegen Koliken unterziehen. Es folgte eine Amöbeninfektion. Eine beginnende Bakterienruhr ließ sich noch abwenden, doch dann entwickelte sich ein Abszeß an der Leber. Ich sah mir die Verschreibungen an. Zwischen 1976 und 1977 besserte sich sein Zustand, seine Aufenthalte in der Klinik wurden seltener, die Ergebnisse der Laboruntersuchungen waren ermutigend. Der Junge war mittlerweile fünfzehn. Aber die Akte schloß mit einem Totenschein, datiert vom 28. August 1977, dem ein Autopsiebericht beilag. Ich nahm das zerknitterte, ordentlich und engbeschriebene Blatt heraus, das unterzeichnet war von >Dr. Hippolyte M’Diaye, examiniert an der medizinischen Fakultät der Universität Paris<. Und was ich nun las, machte mir klar, daß ich bisher erst ins Vorzimmer des Alptraums eingedrungen war.
    Krankenhaus M’Baiki, Lobaye. Autopsiebericht.
    28. August 1977.
    Subjekt: Böhm, Philipp.
    Geschlecht: männlich.
    Rasse: Weiß, kaukasischer Typus.
    Größe: 1,68 Meter; Gewicht: 78 Kilo.
    Zustand: Nackt.
    Geboren am 8. 9.1962 in Montreux, Schweiz.
    Gestorben wahrscheinlich am 24. 8. 1977 im Urwald, fünfzig Kilometer von M’Baiki in der Provinz Lobaye, Republik Zentralafrika.
    Das Gesicht ist intakt bis auf Krallenspuren an den Wangen und Schläfen. Im Mund sind mehrere Zähne gebrochen, andere zerbröckelt, vermutlich aufgrund eines heftigen Kieferkrampfes (keinerlei Anzeichen äußerer Ekchymosen). Fraktur der Halswirbelsäule.
    Die Vorderseite des Thorax weist eine tiefe Wunde auf, vom linken Schlüsselbein bis zum Nabel, exakt in der Mitte. Die Thoraxöffnung wurde durch einen vertikalen Brustbeinschnitt auf gesamter Länge vorgenommen. Auch der Oberkörper weist zahlreiche Krallenspuren auf, insbesondere rund um die Hauptwunde. Die beiden oberen Extremitäten wurden amputiert, die Finger der linken Hand sind gebrochen, der Zeige- und der Ringfinger der Rechten ausgerissen.
    Die Untersuchung des Brustraumes ergibt das Fehlen des Herzens. Im Bauchraum sind mehrere Organe verschwunden beziehungsweise verstümmelt: Därme, Magen, Bauchspeicheldrüse. In der Umgebung der Leiche wurden Organteile mit den Spuren von Tierzähnen gefunden. Kein Anzeichen einer Blutung im Brustraum.
    Sehr langer Einschnitt (sieben Zentimeter) unterhalb der rechten Leiste, der bis zum Oberschenkelhals reicht. Die Geschlechtsorgane (Penis und Hoden) sowie die Oberschenkelmuskeln wurden ausgerissen. Zahlreiche Krallenspuren auf den Schenkeln. Beide Schenkel sind außenseitig aufgerissen. Komplizierte Mehrfachbrüche beider Knöchel.
    Schlußfolgerung: Der knapp fünfzehnjährige Philipp Böhm, Schweizer Staatsangehöriger, wurde während der Expedition PR154, die er mit seinem Vater Max Böhm unternahm, nahe der Grenze zum Kongo von einem Gorilla angegriffen. Die Krallenspuren lassen daran keinen Zweifel, auch gewisse Verstümmelungen des Opfers sind typisch für den Gorilla: er pflegt die Außenseite der Schenkel anzugreifen und seinem Opfer die Knöchel zu brechen, um jede Fluchtmöglichkeit auszuschließen. Anscheinend wurde der Verursacher des Gemetzels, ein altes Männchen, das sich seit einigen Wochen in der Gegend aufhielt, später von einer Familie von Aka- Pygmäen umgebracht.
    Anmerkung: Die Leiche wird noch am selben Nachmittag nach Bangui in die Clinique de France gebracht. Eine Kopie des Autopsieberichts sowie des Totenscheins geht an Dr. Yves Carl. 28. August 1977.10 Uhr 15.
    Die Zeit blieb stehen in diesem Moment. Ich blickte auf und sah mich suchend in dem riesigen leeren Saal um. Mir war eiskalt, obwohl mir der Schweiß übers Gesicht rann. Die Übereinstimmungen in den Autopsieberichten über Philipp Böhm und Rajko Nikolitsch lagen auf der Hand. Zweimal war im Abstand von dreizehn Jahren ein Mensch ermordet worden, sein Herz entwendet und seine Leiche so hinterlassen, daß sie wie ein Opfer wilder Tiere aussah. Doch die schreckliche Entdeckung machte mir mit einem Schlag das Geheimnis von Max Böhm klar, und ich begriff, was geschehen war in der Finsternis des Dschungels, während der Expedition PR 154: man hatte ihm das Herz seines eigenen Sohnes implantiert.

34
     
    Nicht immer kommt guter Rat über Nacht. An diesem Montag, dem 16. September, stand ich auf wie in Trance. Mein Schlaf war ein einziger, grauenvoller Alptraum von den Qualen des jungen Philipp Böhm gewesen. Noch immer war ich starr vor Schrecken

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