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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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zwar in die Unterlagen aus der Zeit, als es hier nur Weiße gab. Geht das?«
    »Dazu bin ich nicht befugt . Verstehen Sie, ich bin verantwortlich, und man wird mich haftbar machen .«
    Joseph machte mir ein unmißverständliches Zeichen. Ich feilschte der Form halber und wurde weitere zehntausend CFA- Francs los. Joseph ging seiner Wege, und ich folgte meinem neuen Führer über einen halbdunklen Betonflur in ein düsteres Treppenhaus.
    »Sind Sie Arzt?« fragte ich.
    »Nur Pfleger«, antwortete er. »Aber das ist hier ungefähr dasselbe.«
    Nach drei Treppen öffnete sich ein weiterer Gang, durchflutet von Sonnenlicht, das durch die ornamentalen Öffnungen fiel. Es roch intensiv nach Äther. In den Räumen, an denen wir vorbeikamen, waren keine Patienten untergebracht, sie dienten vielmehr als Abstellkammern für Rollstühle, Krücken, Metallgestänge, rosarote Leintücher und rudimentäre Betten, die an den Wänden aufgereiht standen. Wir befanden uns im Dachgeschoß der Klinik. Jesus zog einen Schlüsselbund hervor und sperrte eine eiserne Tür auf, die sich mit kreischenden Angeln öffnete. Auf der Schwelle blieb er stehen.
    »Die Akten sind ungeordnet«, erklärte er. »Nach dem Sturz von Bokassa sind die Eigentümer geflüchtet. Die Klinik war zwei Jahre geschlossen, dann wurde sie für die Bürger von Zentralafrika wieder geöffnet. Wir haben jetzt unsere eigenen Ärzte. Sie werden nicht viele Akten finden, in Bangui wurden kaum Weiße behandelt. Nur die Notfälle, die nicht transportfähig waren. Oder harmlose Erkrankungen.« Er zuckte mit den Achseln. »In Afrika steht es mit der Medizin nicht zum besten. Das weiß jeder. Raus kommt man hier nur im Sarg.«
    Mit diesem lakonischen Kommentar machte er kehrt und entschwand; ich war allein.
    Das Archiv enthielt ein paar Tische und vereinzelte Stühle. Lange schwärzliche, eingetrocknete Rinnsale verdunkelten die Wände. Durch die glühendheiße Luft drangen ferne Schreie. In einem eisernen Schrank entdeckte ich die Patientenunterlagen: auf vier Regalen türmten sich vergilbte, feuchtigkeitszerfressene Aktenordner. Ich blätterte in einem Stapel und stellte fest, daß sie tatsächlich ohne jedes System übereinandergeschichtet waren. Also schob ich mehrere Tische zusammen, um eine größere Fläche zur Verfügung zu haben, und legte die Aktenbündel darauf, wischte mir den Schweiß vom Gesicht und begann mit der Entzifferung.
    Im Stehen, gebückt, nahm ich mir das jeweils erste Blatt vor, auf dem die Patientendaten vermerkt und in der Regel noch lesbar waren: Name, Alter und Herkunftsland, gefolgt von der Erkrankung und den verordneten Medikamenten. Ein paar tausend Akten ging ich auf diese Weise durch und stieß auf französische, deutsche, spanische, tschechische, jugoslawische, russische, sogar chinesische Namen in Verbindung mit allen möglichen tropischen Krankheiten, unter denen die anfälligen Ausländer sich in elende Fieberbündel verwandelt hatten. Sumpffieber, Koliken, Allergien, Sonnenstiche, Geschlechtskrankheiten . Jedesmal folgten die Namen der Medikamente, immer dieselben; in seltenen Fällen lag der an die jeweils zuständige Botschaft gestellte Antrag auf Rückführung in die Heimat bei. Stunden vergingen, die Stapel wurden kleiner. Um siebzehn Uhr hatte ich sämtliche Akten durchgesehen. Nicht ein einziges Mal waren die Namen Böhm oder Kiefer aufgetaucht. Selbst hier hatte der alte Max sämtliche Spuren vernichtet.
    Hinter mir ertönten Schritte: Jesus hatte mich nicht vergessen.
    »Na, wie steht’s?« fragte er mit neugierig gerecktem Hals.
    »Fehlschlag. Keine Spur von dem Mann, den ich suche. Dabei weiß ich, daß er regelmäßig hergekommen ist.«
    »Wie heißt er?«
    »Böhm. Max Böhm.«
    »Nie gehört.«
    »Er lebte in den siebziger Jahren in Bangui.«
    »Böhm, ist das ein deutscher Name?«
    »Schweizerisch.«
    »Ein Schweizer? Der Mann, den du suchst, ist ein Schweizer?« Jesus brach in schrilles Gelächter aus und klatschte in die Hände. »Ein Schweizer! Das hättest du mir gleich sagen müssen! Sinnlos, hier zu suchen, Chef. Die Karteikarten der Schweizer werden woanders aufbewahrt.«
    »Wo?« fragte ich ungeduldig.
    Jesus setzte eine gekränkte Miene auf. Mehrere Sekunden schwieg er, dann hob er seinen langen, gestreckten Zeigefinger. »Die Schweizer sind seriöse Leute, Chef. Das darf man nicht vergessen. Als die Klinik geschlossen wurde, das war im Jahr 1979, waren sie die einzigen, die sich um die medizinischen Unterlagen

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