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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Kopfkissen, und im Zwielicht leuchteten ihre Augen wie Glühwürmchen. Ihr Körper verschmolz mit dem Schatten. Und es war, als hätte das Verlangen endlich seinen Platz gefunden: im Herzen der Finsternis. Namenlos und geheim, aber voller Wonnen für den, der sie zu pflücken verstand. Noch nie hatte ich derart darunter gelitten, daß ich nicht mit den Händen über diesen langen Leib der Wollust streichen konnte, um dieses Fleisch zu spüren, die verzauberten Hügel und Formen, worin sich unendliche Fallen der Süße verbargen.
    Ich stand auf und zog mich an und steckte das kleine Diktiergerät ein, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß es funktionierte. Als ich mein Pistolenholster anlegte, trat Tina auf mich zu und umfing mich mit ihren langen Armen, und ich begriff, daß wir beide eine unwandelbare Szene aufführten: den Abschied des Kriegers, jahrtausendelang wiederholt, auf allen Breitengraden und in allen Sprachen der Erde.
    »Geh zurück unter das Moskitonetz«, murmelte ich. »Unsere Gerüche sind noch da. Heb sie dir auf, meine kleine Gazelle, und bewahr sie für immer in deinem Herzen.«
    Tina verstand nicht gleich den Sinn meiner Worte. Aber dann leuchtete ihr Gesicht auf, und sie sagte mir in ihrer eigenen Sprache Lebewohl.
    Draußen brannte der Himmel in den Farben des frühen Morgens. Die hohen Gräser funkelten, und die Luft schien mir noch nie so rein gewesen zu sein. Auf der Ebene breiteten Tausende von Störchen sich aus, soweit das Auge reichte. Weiß und schwarz, schwarz und weiß. Sie waren ausgezehrt, gerupft, erschöpft, und doch schienen sie glücklich. Nach zehntausend Kilometern waren sie endlich am Ziel. Ich war allein, stand allein vor der letzten Etappe, allein vor der Konfrontation mit Kiefer, dem lebenden Toten, der die letzten noch fehlenden Teile des Alptraums kannte. Ein letztes Mal prüfte ich das Magazin der Glock 21 und machte mich auf den Weg. Sehr klar hob das Haus des Tschechen sich vom Wasser des Flusses ab.

44
     
    Geräuschlos stieg ich die Verandastufen hinauf. Als ich das erste Zimmer betrat, sah ich die M’Bati-Frau rücklings auf einer Holzbank liegen und schnarchen. Ihr dickes Gesicht fiel im Schlaf unschön auseinander, und über ihre Wangen zogen sich lange Narben, die im ersten Morgenlicht matt schimmerten. Rings um sie, direkt auf dem Boden, schliefen ihre Kinder unter zerlumpten Decken.
    Links zweigte ein Gang ab. Ich wunderte mich über die Ähnlichkeit zwischen dieser und der Villa, in der ich die Nacht verbracht hatte; Kiefer und ich wohnten tatsächlich im gleichen Haus. Vorsichtig tastete ich mich weiter. Hunderte von Eidechsen huschten über die Wände und starrten mich aus ihren trockenen Augen an. Ein unbeschreiblicher Gestank herrschte hier, die Luft war gesättigt von den modrigen Ausdünstungen des Flusses. Ich schlich noch weiter. Eine Ahnung sagte mir, daß der Tscheche im gleichen Zimmer untergebracht war wie ich: dem letzten Raum auf der rechten Seite am Ende des Flurs. Die Tür stand offen, und ich spähte in den halbdunklen Raum. Unter einem hohen Moskitonetz stand das Bett und war anscheinend leer. Auf einem niedrigen Tisch standen durchsichtige Medizinfläschchen, daneben lagen zwei Spritzen.
    Ich ging noch ein paar Schritte tiefer in dieses Grab.
    »Was suchst du hier, Bursche?«
    Ein eisiger Schreck durchfuhr mich. Die Stimme kam hinter dem Moskitonetz hervor. Es war aber nicht eigentlich eine Stimme, sondern eher ein Flüstern, ein speichelfeuchtes Pfeifen voller hohler Nebengeräusche, das nur mit Mühe verständliche Worte hervorbrachte, so abstoßend, daß es jeden, der es gehört hatte, nicht mehr losließ.
    Diese Stimme fügte hinzu: »Gegen einen, der schon tot ist, richtet man nichts aus.«
    Ich trat näher. Meine Hand auf dem Pistolengriff zitterte - wie bei einem verängstigten Kind. Endlich sah ich die Gestalt, die sich hinter den Tüllbahnen verbarg, und wurde von heftigem Abscheu ergriffen. Die Krankheit hatte Otto Kiefer regelrecht zerfressen. Sein Körper war nur noch schlaffe Haut, eine lose Hülle, die das Gerippe umgab. Er hatte weder Haare noch Brauen, noch sonst irgendeine Behaarung; statt dessen war er übersät von schwärzlichen Flecken und trockenen Krusten, auf der Stirn, dem Hals, den Unterarmen. Er trug ein weißes Nachthemd, das von dunklen Schlieren besudelt war, und saß aufrecht im Bett wie ein Wesen, das schon jenseits des Todes ist.
    Seine Gesichtszüge konnte ich nicht erkennen; ich nahm nur seine

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