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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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östlich. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte halb sechs. Endlich erschien im Scheinwerferlicht das Ortsschild vor mir. Ich fuhr kreuz und quer durchs Dorf, bis ich endlich das Haus der Braeslers gefunden hatte. Ich parkte an der Gartenmauer.
    Der Tag brach an. Im frühen Morgenlicht wirkte die vom Herbst gerötete Landschaft wie ein brennender Wald, der in seinen Flammen erstarrt ist. Eine unsagbare Ruhe lag über allem. Zwischen hohem Gras flossen dunkle Kanäle, und die bereits spärlich belaubten Bäume griffen grau und glatt in den Himmel.
    Ich betrat den Hof des Gutshauses, eines hufeisenförmigen Gebäudekomplexes. Von weitem erkannte ich Georges Braesler, der schon auf war und sich an den großen Käfigen zu schaffen machte, in denen viele aschfarbene Vögel sich reckten und schüttelten. Er wandte mir den Rücken zu und konnte mich nicht sehen. Deshalb überquerte ich lautlos den Rasen und schlich ins Haus.
    Drinnen war alles aus Stein und Holz. Große Fenstertüren, in die Mauer gehauen, führten auf den Park hinaus. Eichenmöbel verströmten einen intensiven Geruch nach Wachs, schmiedeeiserne Leuchter warfen ihre Schatten über die Fußbodenkacheln. Eine mittelalterliche Strenge herrschte hier, ein Geruch nach gnadenlosem und blindem Adel. Ich war in einer Festung, einer Zuflucht vor der Zeit, der Höhle, in der die beiden sich hinter ihren Privilegien verschanzt hatten.
    »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
    Ich wandte mich um und erkannte Nellys magere Gestalt, ihre schmalen Schultern und ihr kreidebleiches, vom Alkohol schlaff gewordenes Gesicht. Nun sah auch sie, wen sie vor sich hatte, und mußte an der Wand Halt suchen. »Louis . «, stammelte sie. »Was tun Sie hier?«
    »Ich bin gekommen, um mit dir über Pierre Senicier zu reden.«
    Schwankend kam meine Adoptivmutter näher. Mir fiel auf, daß ihre bläulichweiße Perücke verrutscht war. Vermutlich hatte sie nicht geschlafen und war schon - oder noch - betrunken.
    »Über Pierre ... Pierre Senicier?« wiederholte sie.
    »Ja«, antwortete ich in gleichmütigem Ton. »Ich finde, ich bin jetzt alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Die Wahrheit, Nelly.«
    Die alte Frau schlug die Augen nieder, ich sah ihre Lider flattern, und auf einmal verzogen sich ihre Lippen zu einem unerwarteten Lächeln. »Die Wahrheit . «, murmelte sie und ging, nun mit festerem Schritt, zur Anrichte, auf der zahlreiche Karaffen aufgereiht waren. Sie füllte zwei Gläser und reichte mir eins.
    »Ich trinke nicht, Nelly. Ohnehin ist es dazu viel zu früh.«
    Sie aber bestand darauf. »Trinken Sie, Louis, und setzen Sie sich. Sie werden es brauchen.«
    Ich gehorchte, ohne zu widersprechen. Ich suchte mir einen Sessel in der Nähe des Kamins, denn ich fing schon wieder an zu zittern, trank einen Schluck Whisky und stellte fest, daß die Wärme des Alkohols mir tatsächlich guttat. Nelly setzte sich mir gegenüber ins Gegenlicht. Sie stellte die Whiskykaraffe neben sich auf den Boden und leerte ihr Glas in einem Zug, dann füllte sie es erneut. Unterdessen hatte sie ihre Fassung wiedergefunden und sogar ein wenig Farbe im Gesicht. Sie setzte zu ihrer Rede an - und erstaunlicherweise begann sie auf einmal, mich zu duzen.
    »Es gibt Dinge, Louis, die man nicht vergißt. Dinge, die sich ins Herz einprägen wie die Inschrift auf marmornen Grabsteinen. Ich weiß nicht, woher du den Namen Pierre Senicier hast. Ich weiß nicht, was genau du herausgefunden hast. Ich weiß nicht, wie die Migration der Störche dich dazu geführt hat, hierherzukommen, um das bestgehütete Geheimnis der Welt auszugraben. Aber das ist nicht schlimm. Jetzt ist nichts mehr schlimm. Die Stunde der Wahrheit hat geschlagen, Louis, und für mich vielleicht auch die Stunde der Befreiung.
    Also. Pierre Senicier stammte aus einer Familie des gehobenen Pariser Bürgertums. Sein Vater Paul Senicier war ein angesehener Verwaltungsbeamter, der seinerzeit eine herausragende Persönlichkeit war und mehrere Republiken überlebt hatte, ohne je zu wanken. Er war ein strenger, schweigsamer und unbarmherziger Mann, der gefürchtet wurde, der die Welt als eine zerbrechliche Konstruktion ansah, auf die er seine mächtige Hand legen konnte. Zu Beginn des Jahrhunderts gebar ihm seine Frau innerhalb weniger Jahre drei Kinder, drei Söhne, die ihrer Geburt nach eine glanzvolle Zukunft vor sich gehabt hätten, sich aber leider als >überzüchtet< erwiesen und geistig minderbemittelt waren. Der Vater tobte vor Wut, doch dank seines

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