Der Flug der Stoerche
Kontakt, die mir regelmäßig schrieb. So lernte ich die wahre Natur von Pierre Senicier kennen, ihrem Gatten, dem sie soeben einen kleinen Jungen geboren hatte.
1958 hatte Senicier eine wichtige Stelle in der herzchirurgischen Abteilung am Krankenhaus La Pitie inne. Er war fünfundzwanzig. Er hatte eine brillante Karriere vor sich, aber er war besessen von einer unbezwingbaren Neigung zum Bösen - erklärte mir Marie-Anne in ihren Briefen. Sie hatte sich in der Vergangenheit ihres Mannes umgesehen und war dabei auf dunkle Stellen gestoßen, die sie - und mich - das Grauen lehrten. Als Student war Senicier bei der Vivisektion kleiner Kätzchen überrascht worden. Die Augenzeugen hatten zunächst an eine Sinnestäuschung geglaubt: die grauenhaften Schreie, die durch das Universitätsgewölbe hallten, die kleinen Leiber, die sich wanden vor Schmerz. Merkwürdigerweise geschah ihm nichts; offenbar konnte er sich herausreden, denn er wurde nicht von der Universität ausgeschlossen. Später, nachdem er längst fertiger Arzt war, entdeckte man an den Insassen einer Anstalt für schwachsinnige Kinder in Villejuif, mit der er in irgendeiner Weise zu tun hatte, unerklärliche Wunden, Verbrennungen und Schnitte, und er stand im Verdacht, der Urheber dieser Verletzungen zu sein, abscheuliche Experimente an den hilflosen Wesen durchgeführt zu haben. Aber man konnte ihm nichts nachweisen.
Die Ärztekammer drohte ihm mit Berufsverbot, 1960 jedoch geschah etwas Außergewöhnliches: Senicier gelang die erste Herztransplantation der Welt. Er pflanzte einem Menschen ein Schimpansenherz ein. Wegen der Gewebeabstoßung überlebte der Patient zwar nur ein paar Stunden, aber in chirurgischer Hinsicht war der Eingriff ein Erfolg. Die schrecklichen Verdächtigungen verblaßten, und Senicier wurde zum nationalen Helden und gefeiert von der wissenschaftlichen Welt. Mit siebenundzwanzig Jahren wurde er durch General de Gaulle höchstpersönlich zum Mitglied der Ehrenlegion ernannt.
Im Jahr darauf starb der alte Senicier und vermachte den größten Teil seines Vermögens Pierre, der mit dem Geld eine Privatklinik in Neuilly-sur-Seine eröffnete. Innerhalb weniger Monate war die Pasteur-Klinik ein sehr bekanntes und vielbesuchtes Krankenhaus, in das die Reichen aus ganz Europa strömten und sich behandeln ließen. Pierre Senicier stand auf dem Gipfel seines Ruhms. Daraufhin entwickelte er humanitäre Ambitionen. Im Park der Klinik ließ er ein Waisenhaus errichten, das zur Unterbringung und zur Erziehung von elternlosen und von armen Kindern, vor allem Zigeunern, gedacht war. Dank seiner neuerworbenen Bekanntheit gelang es ihm, Gelder vom Staat lockerzumachen, außerdem Spenden von Wirtschaftsunternehmen und reichen Privatpersonen.«
Ich hörte ein leises Klingeln - die Karaffe am Glasrand -, dann das Gluckern von Flüssigkeit. Eine Weile herrschte Stille, dann schnalzte Nelly mit der Zunge. In meinem Geist nahm die Aufeinanderfolge der Ereignisse Gestalt an und erhob sich vor mir als eine pechschwarze Wand.
»In dem Moment kippte alles um. Der Tonfall von Marie-Annes Briefen änderte sich - das waren keine Briefe an eine Freundin mehr, sondern schreckliche und schrecklich unbeteiligte Berichte, und ich war überzeugt, daß sie den Verstand verloren hatte. Ich konnte nicht glauben, was sie mir schrieb. Séniciers Anstalt, sagte sie, sei eine grauenhafte Folterstätte, der Schauplatz unvorstellbarer Barbarei. Ihr Gatte hatte sich im Keller einen Operationsraum eingerichtet, in dem er die schlimmsten Eingriffe an Kindern vornahm: Amputationen bei vollem Bewußtsein, monströse Transplantationen, unzählige Folterungen ...
Gleichzeitig erstatteten immer mehr Zigeunerfamilien Anzeige gegen ihn. Eine Durchsuchung der Pasteur-Klinik wurde anberaumt. Zum letzten Mal konnte Sénicier sich durch seine Beziehungen und seinen Einfluß retten. Rechtzeitig vor dem Eintreffen der Polizei wurde er gewarnt und legte einen Großbrand in den Institutsgebäuden. Es war gerade noch Zeit, die Kinder aus den oberen Stockwerken und die Patienten der Klinik zu evakuieren. So wurde das Schlimmste verhindert. Offiziell zumindest. Denn aus dem Geheimlabor im Keller kam keiner lebend heraus. Sénicier hatte seine Schreckenskammer versiegelt und die Opfer seiner Experimente verbrannt.
Die anschließende Untersuchung ergab als Ursache des Feuers einen Unfall. Die überlebenden Kinder wurden ihren Familien zurückgegeben oder in anderen Heimen untergebracht, der Fall
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