Der Flug der Stoerche
Vermögens konnte er das Gesicht wahren.
Henri, der Älteste, bucklig und zurückgeblieben, verschwand in die Normandie, um die >Schlösser< zu hüten: drei heruntergekommene Gutshäuser. Dominique, der wenigstens körperlich recht robust war, trat in die Armee ein und rückte mit Hilfe der Beziehungen seines Vaters ein paar Dienstgrade auf. Raphael schließlich, der jüngste, der weniger schwachsinnig, dafür aber heimtückischer war, trat einem Orden bei. Er bekam eine Diözese in einer gottverlassenen Gegend zugewiesen, nicht weit von Henris Ländereien, doch dann verschwand auch er in der Vergessenheit. Zu der Zeit interessierte sich Paul Senicier schon nicht mehr für seine drei Kinder. Er hatte nur noch Augen für seinen vierten Sohn Pierre, der 1933 zur Welt gekommen war, als Paul fünfzig Jahre alt war. Seine Gattin, kaum jünger als er, hatte dieses Kind sozusagen in ihren letzten Zügen geboren und war gleich darauf verschieden, als hätte sie damit ihre letzte und höchste Pflicht erfüllt.
Pierre war in jeder Hinsicht ein Segen, ein außergewöhnliches Kind, das anscheinend alle Begabungen, alle Trümpfe dieser degenerierten Familie in sich vereinte. Der alte Vater widmete sich mit Leib und Seele der Erziehung dieses Sohnes. Er brachte ihm selber Lesen und Schreiben bei, lang vor der Einschulung, und verfolgte begierig das Erwachen seines Verstandes. Als Pierre ins Pubertätsalter kam, hoffte Paul Senicier, daß sein Sohn dieselbe Laufbahn einschlagen würde wie er, die Beamtenkarriere. Der Sohn jedoch wollte sich der Medizin zuwenden, und der Vater fügte sich, denn er spürte, daß sich in der Persönlichkeit des Kindes eine echte Berufung anbahnte. Er hatte nicht unrecht. Mit dreiundzwanzig Jahren war Senicier junior bereits ein angesehener Chirurg und im Begriff, sich auf Kardiologie zu spezialisieren.
Um diese Zeit lernte ich Pierre kennen. In dem engen Milieu eingebildeter und unbeschäftigter Kinder aus bestem Hause, in dem wir uns bewegten, war er eine erfrischende Ausnahme. Er war groß, gut aussehend, asketisch, und sein ganzer Körper vibrierte von einem geheimnisvollen Schweigen. Ich erinnere mich noch, daß wir >Rallyes< veranstalteten, affektierte Abendgesellschaften, in denen wir uns einsperrten wie wilde Tiere. Wir waren blutleer geworden durch unsere eigene Einsamkeit. Die Mädchen trugen die Kleider ihrer Mütter, und die Jungen erschienen in gestärkten und steifen alten Smokings. Aber wir Mädchen warteten fortan nur noch auf einen Mann, Pierre Senicier, Er gehörte bereits der Welt der Erwachsenen an, der Welt der Verantwortung. Und kaum war er da, war der Abend wie verwandelt - die Lüster, die Kleider, der Alkohol, alles drehte sich nur noch um ihn und glänzte für ihn.«
Nelly verstummte und schenkte sich nach.
»Ich war es, die Pierre Senicier mit Marie-Anne de Montalier bekannt machte. Marie-Anne war eine sehr enge Freundin von mir. Eine blonde, magere junge Frau mit zerzaustem Haar, die immer aussah wie frisch aus dem Bett. Auf auffälligsten war ihre Blässe: sie hatte eine Weißheit, eine Durchsichtigkeit, die sich mit nichts anderem vergleichen ließ. Marie-Anne stammte aus einer reichen Familie französischer Kolonialisten, die sich im letzten Jahrhundert in einer wilden Gegend in Afrika niedergelassen und Land urbar gemacht hatten. Es hieß, die Familie habe aus Angst, sich durch die schwarze Rasse zugrunde zu richten, immer nur unter Verwandten geheiratet, was die Ursache dieser Blutarmut sei.
Marie-Anne verliebte sich in Pierre in derselben Sekunde, in der sie ihn erblickte. Ich war verstört und bereute sofort, sie einander vorgestellt zu haben. Aber es war zu spät, ihr Schicksal war besiegelt. Bald aber verwandelte sich Marie- Annes Leidenschaft in Angst, in eine tiefe, verborgene Furcht, die sie der Außenwelt zunehmend entfremdete. Mit der Zeit war sie wie erfüllt von einem düsteren Glanz, der sie nur noch schöner werden ließ. Pierre und Marie-Anne heirateten im Januar 1957. Während der Hochzeitsfeier flüsterte sie mir zu: >Ich bin verloren, Nelly. Ich weiß es, aber es ist zu spät, ich habe mich so entschieden.< Zu der Zeit lernte ich Georges Braesler kennen. Er war älter als ich, schrieb Gedichte und Drehbücher und wollte als Diplomat durch die Welt reisen, >wie Claudel und Malraux<, sagte er. Ich war damals recht hübsch, leichtfertig und sorglos, meine früheren Bekannten verlor ich zunehmend aus den Augen und stand nur noch mit Marie-Anne in
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