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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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um die wandernden Störche aufzuspüren. Daraufhin erhellten sich seine Züge, und er erklärte mir eifrig, er beobachte die Weißstörche seit über zwanzig Jahren und kenne jeden einzelnen ihrer Rastplätze in der Umgebung. Er sprach ein korrektes, aber abgehacktes Französisch, seine Sätze prasselten auf mich nieder wie Sentenzen. Daraufhin erklärte ich ihm meinerseits das Prinzip des Satellitenexperiments und sprach von den exakten Ortsangaben, die ich damit erhalten würde. Nachdem er mir eine Weile aufmerksam zugehört hatte, fing er an zu grinsen. »Man braucht keinen Satelliten, um die Störche zu finden. Kommen Sie mit«, sagte er.
    Wir nahmen seinen Wagen - einen auf Hochglanz polierten Skoda. Am Stadtrand von Bratislava durchquerten wir zunächst das Industriegebiet mit hohen Ziegel-Schornsteinen von der Art, wie sie die sozialistische Kunst bevölkern. In der Hitze verfolgten uns gewaltige Gerüche, beißend, übelkeiterregend und beunruhigend. Dann kamen wir an riesigen Steinbrüchen vorbei, in denen metallene Ungeheuer hausten. Endlich waren wir auf dem Land, das sich menschenleer und kahl vor uns erstreckte, und an die Stelle des Industriegestanks traten die landwirtschaftlichen Ausdünstungen. Anscheinend hatte man die Gegend zu einer maßlosen Produktivität auserkoren - genug, um die Erde selbst auszubluten.
    Wir fuhren durch Weizen-, Raps- und Maisfelder. In der Ferne verbreiteten schwere Traktoren Rauch- und Staubwolken, aber die Sonne schien sanfter, und die Luft war milder und frischer. Vom Steuer aus suchte Joro den Horizont ab und sah, was ich nicht sah, blieb immer wieder an Stellen stehen, an denen ich nichts Auffälliges zu erkennen vermochte. Schließlich bog er in einen steinigen Feldweg ein; ringsum herrschten Ruhe und Stille. Wir fuhren einen Teich entlang, der grün und reglos war. Zahlreiche Vögel versammelten sich hier, Reiher, Kraniche, Milane, Stelzvögel, die im Schwärm vorbeischossen. Aber keine schwarzweißen Storchengefieder. Joro schnitt eine Grimasse. Das Ausbleiben der Störche war offensichtlich ein außergewöhnliches Ereignis. Wir warteten,
    Joro starr wie eine Statue, das Fernglas vor den Augen. Ich saß neben ihm auf der verbrannten Erde und nutzte die Gelegenheit, um ihn auszufragen.
    »Beringen Sie die Störche?« begann ich.
    Joro ließ das Fernglas sinken und sah mich an. »Nein, wozu denn?« fragte er. »Sie kommen und gehen. Wozu sie numerieren? Ich weiß, wo sie nisten, das genügt. Jeder Storch kehrt jedes Jahr zu seinem eigenen Nest zurück. Darauf ist Verlaß.«
    »Aber sehen Sie während der Wanderschaft auch beringte Störche?«
    »Selbstverständlich. Ich führe sogar Buch darüber.«
    »Was heißt das?«
    »Ich schreibe alle Nummern auf, die ich sehe. Mit Ort, Datum und Tageszeit. Ich werde dafür bezahlt. Von einem Schweizer.«
    »Max Böhm etwa?«
    »Genau.«
    Böhm hatte nicht erwähnt, daß Joro einer seiner >Wachposten< war.
    »Wie lang arbeiten Sie denn schon für ihn?«
    »Fast zehn Jahre.«
    »Und warum, glauben Sie, will er das?«
    »Weil er spinnt.«
    Joro wiederholte: »Er spinnt«, und klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Im Frühjahr, wenn die Störche zurückkommen, ruft Böhm mich jeden Tag an und fragt, ob ich diese und jene Nummer gesehen hätte. In solchen Momenten ist er nicht ganz bei Trost. Im Mai, wenn alle Vögel weitergezogen sind, atmet er auf und telefoniert nicht mehr. Dieses Jahr war es ganz schrecklich. Fast kein einziger Storch ist zurückgekehrt. Ich dachte, er bricht zusammen. Aber gut, was soll man machen. Er zahlt, und ich tu’ die Arbeit.«
    Joro flößte mir Vertrauen ein, deshalb sagte ich ihm - ohne ihm zu verraten, daß der Schweizer tot war -, ich stünde ebenfalls in Böhms Diensten, und dieser Umstand stärkte unser Einverständnis. In Joros Augen war ich als Franzose zunächst nur ein >Westler<, reich und verachtenswert; aber die Erkenntnis, daß wir beide für denselben Mann arbeiteten, befreite ihn von seinen Komplexen; fortan duzte er mich.
    Nach einer Weile holte ich die Fotografien von den Störchen hervor und kehrte zu meinem Thema zurück: »Wie erklärst du dir das Verschwinden der Störche?«
    »Es ist ja nur ein bestimmter Typ von Störchen verschwunden.«
    »Was soll das heißen?«
    »Verschwunden sind nur die beringten Störche. Vor allem die mit zwei Ringen.«
    Diese Information war wesentlich. Joro griff nach den Fotografien.
    »Schau«, sagte er, während er mir ein paar Abzüge

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