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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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hinhielt. »Die meisten Störche tragen zwei Ringe. Zwei Ringe«, wiederholte er eindringlich. »Und beide am rechten Bein, oberhalb des Gelenks. Das bedeutet, daß sie einmal am Boden gefangen wurden.«
    »Was ist das für ein System?«
    »In Europa befestigt man den ersten Ring am Storchjungen, das noch nicht flügge ist. Den zweiten Ring kann man nur dann anbringen, wenn man den Vogel irgendwann später auf die eine oder andere Weise in die Hände bekommt - wenn er krank ist oder verwundet. Zu dem Zeitpunkt legt man ihm den zweiten Ring an. Mit dem exakten Datum der Versorgung. Siehst du, hier erkennt man das sehr gut.«
    Joro reichte mir das Bild. Tatsächlich waren auf beiden Ringen die Daten zu lesen: April 1984 und Juli 1987. Also war dieser Storch drei Jahre nach seiner Geburt von Böhm versorgt
    worden.
    »Ich hab’ mir Notizen gemacht«, fügte Joro hinzu. »Siebzig Prozent der verschwundenen Störche sind solche mit zwei Ringen. Flügellahme, die irgendwann mal flugunfähig waren.«
    »Was hältst du davon?« fragte ich.
    Joro zuckte die Achseln. »Vielleicht ist irgendwo eine Seuche ausgebrochen, in Afrika oder Israel oder in der Türkei. Vielleicht waren diese Störche weniger widerstandsfähig als die anderen. Vielleicht hindern die Ringe sie daran, im Busch so frei zu jagen, wie sie’s brauchen. Was weiß ich.«
    »Hast du mit Böhm darüber gesprochen?«
    Aber Joro hörte nicht mehr zu. Er hielt sich wieder das Fernglas vor die Augen und murmelte halblaut vor sich hin: »Da sind sie, da, dort hinten ...«
    Wenige Sekunden später sah ich am Himmel, der noch hell war, eine Gruppe von Vögeln auftauchen, weich und geschmeidig flogen sie auf uns zu. Aber im selben Moment stieß Joro einen slowakischen Fluch aus: er hatte sich geirrt; es waren keine Störche, sondern nur Milane, die hoch über unseren Köpfen vorbeisausten. Dennoch sah Joro ihnen nach, aus reiner Freude, und auch ich beobachtete die Raubvögel in der befremdlichen Stille des Sommerabends. Zum erstenmal fiel mir ihre außergewöhnliche Leichtigkeit auf, ein Talent, das dem Menschen gänzlich fehlt. Beim Anblick dieser Vögel wurde mir mit einemmal bewußt, daß es nichts Zauberhafteres gibt als die Welt der Vögel, diese natürliche Eleganz, die pfeilschnell vorüberfliegt.
    Schließlich setzte Joro sich zu mir auf den Boden, legte das Fernglas beiseite und begann sich eine Zigarette zu drehen. Ich sah ihm zu und begriff endlich, weshalb er mir zur Begrüßung nicht die Hand gereicht hatte. Seine Hände waren arthritisch verkrümmt, die Finger im rechten Winkel steif abgewinkelt, gleich nach dem ersten Gelenk. Wie bei Jules Berry, der in den
    Vorkriegsfilmen sein Gebrechen meisterhaft eingesetzt hat. Wie bei John Carradine, Horrorfilmdarsteller, der diese versteinerten Kastagnetten nicht einmal mehr bewegen konnte. Joro indes brauchte für seine Zigarette nur ein paar Sekunden. Bevor er sie anzündete, fragte er: »Wie alt bist du?«
    »Zweiunddreißig.«
    »Und von wo aus Frankreich bist du?«
    »Paris.«
    »Ah, Paris, Paris ...«
    Ein banaler Ausruf, der im Mund des alternden Mannes jedoch einen sehnsüchtigen, merkwürdig inbrünstigen Klang hatte. Er zündete seine Zigarette an, während er mit zusammengekniffenen Augen den Horizont absuchte.
    »Bezahlt dich Böhm dafür, daß du seinen Störchen nachfährst?«
    »So ist es.«
    »Kein schlechter Job. Was meinst du - wirst du herausfinden, was mit ihnen passiert ist?«
    »Das hoffe ich.«
    »Ich hoffe es auch. Wegen Böhm. Dem zerreißt es sonst das Herz.«
    Ich zögerte eine Weile, dann sagte ich: »Das ist schon geschehen. Max Böhm ist tot, Joro.«
    »Tot? Na, das wundert mich nicht.«
    Ich schilderte ihm die Umstände von Böhms Tod. Joro schien nicht weiter erschüttert - um sein Gehalt freilich tat es ihm leid. Ich spürte, daß er den Schweizer nicht mochte und Ornithologen im allgemeinen verachtete, die Störche als ihr Eigentum ansahen, als Haustiere fast: mit den Vögeln, die in völliger Freiheit tausendfältig über den Himmel von Osteuropa zögen, sagte er, hätten sie nichts mehr gemein.
    Als Nachruf auf Max Böhm erzählte mir Joro, wie der Schweizer 1982 nach Bratislava gekommen war, um ihm diese
    Aufgabe, eine Vertrauenssache, anzutragen. Etliche tausend tschechische Kronen hatte er ihm dafür geboten, daß er nichts anderes tat, als jedes Jahr den Zug der Störche zu beobachten. Joro hatte ihn für einen Verrückten gehalten, aber den Job bereitwillig

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