Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
vierten Stock eines bürgerlichen Wohnhauses am Boulevard Raspail. Von den sechs Zimmern, die mir zur Verfügung standen, benutzte ich zwar nur drei - Salon, Schlafzimmer und Büro -, aber ich liebte es, mich in den weitläufigen Fluchten zu bewegen, in denen Leere und Schweigen herrschten. Diese Wohnung war ein Geschenk meiner Adoptiveltern - eine ihrer vielen Großzügigkeiten, die mir das Dasein erleichterten, ohne in mir die leiseste Dankbarkeit zu erwecken. Die beiden Alten waren mir zutiefst zuwider. Für mich waren sie bloß zwei namenlose Spießbürger, die zwar über mich gewacht hatten, doch immer nur aus der Ferne. In fünfundzwanzig Jahren hatten sie mir lediglich ein paar Briefe geschrieben und mich nicht öfter als insgesamt vier- oder fünfmal besucht. Es war, als hätten sie meinen Eltern vor deren Tod irgendein obskures Versprechen gegeben, das sie mit Überwindung und nur unter äußerster persönlicher Zurückhaltung einlösten - mit Hilfe von Geschenken und Schecks. Schon längst hatte ich aufgehört, irgendeine Geste der Zuneigung oder Freundlichkeit von ihnen zu erwarten. Ich hatte mit ihnen abgeschlossen, profitierte jedoch nach wie vor von ihrem Geld - mit heimlicher Bitterkeit.
    Zum letzten Mal hatte ich die Braeslers im Jahr 1982 gesehen, als sie mir die Schlüssel zu meiner Wohnung übergaben. Das ältliche Paar bot einen wenig erfreulichen Anblick. Nelly war um die Sechzig, klein und vertrocknet und ätzend wie ein Mund voller Salz. Sie trug bläuliche Perücken und stieß immerfort kleine Schreie aus, die jedoch ein Gelächter waren, nicht unähnlich dem Piepsen eines Sperlings im Käfig. Von früh bis spät war sie betrunken. Georges war kaum anregender. Obwohl er einst französischer Botschafter und mit Andre Gide und Valery Larbaud befreundet gewesen war, zog er der Gesellschaft seiner Mitmenschen mittlerweile die Graureiher vor. Im übrigen gab er kaum etwas anderes von sich als einsilbige Worte und Kopfschütteln.
    Ich selbst führte ein vollkommen einsames Dasein. Keine Frau, wenig Freunde, keinerlei Unternehmungen. Das alles hatte ich schon mit Zwanzig genossen - zur Genüge, wie ich fand. In einem Alter, das für andere die besten Jahre sind, um sich in Feste und Exzesse zu stürzen, war ich in Einsamkeit und Askese abgetaucht und hatte studiert. Fast ein Jahrzehnt lang war ich durch die Bibliotheken gestreift, hatte exzerpiert und geschrieben und auf über tausend Seiten Gedanken festgehalten. Ich war in der Größe der Geisteswelt aufgegangen, die völlig abstrakt war, und der durchaus konkreten Einsamkeit meines Alltags vor dem flimmernden Bildschirm des Computers.
    Meine Geckenhaftigkeit war der einzige Luxus, den ich mir leistete, ich liebte die teure Eleganz. Dabei fällt es mir trotz meiner Neigung zu Äußerlichkeiten nicht leicht, mich zu beschreiben: mein Gesicht ist eine Mischung. Einerseits sehe ich durchaus eine gewisse Feinheit - eine hohe Stirn, hervortretende Wangenknochen, durch vorzeitige Falten geschärfte Züge; auf der anderen Seite aber hängende Lider, ein plumpes Kinn, eine barocke Nase. Dieselbe Ambivalenz stelle ich an meinem Körper fest, der, obwohl hochgewachsen und einigermaßen elegant, stämmig und muskulös ist. Deshalb legte ich diesen besonderen Wert auf meine Kleidung. Ich trug stets Jacketts von ausgesuchtem Schnitt und Hosen mit tadellosen Falten, in den Farben, Mustern und in den Details hingegen war ich kühner. Ich gehörte zu jenen, die überzeugt sind, daß ein rotes Hemd oder ein Jackett mit fünf Knöpfen einen geradezu existentiellen Akt darstellt.
    Wie fern war das alles, als über Bratislava die Sonne unterging und ich jede Minute des Wartens genoß, während mir Fetzen einer unbekannten Sprache ans Ohr drangen und in die Lunge die Abgase der kränkelnden Autos. Um halb acht trat ein kleiner Mann vor mich hin. »Louis Antioche?« fragte er.
    Ich stand auf, um ihn zu begrüßen, wobei ich sofort die Hände in die Taschen steckte. Joro traf ebenfalls keine Anstalten, mich mit Handschlag zu begrüßen.
    »Sie sind Joro Grybinski, nehme ich an?«
    Er nickte mißmutig. Er wirkte auf mich wie ein Sturm: graue Locken peitschten seine Stirn, die Augen funkelten tief in den Höhlen, der Mund war verbittert und stolz. Joro schien um die Fünfzig. Er war in armselige Lumpen gekleidet, aber die Würde seiner Miene, seiner Gesten blieb davon unangetastet.
    Ich setzte ihm den Grund meiner Reise nach Bratislava auseinander und sagte, ich sei hier,

Weitere Kostenlose Bücher