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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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angenommen.
    »Komisch«, sagte er nach einem Zug von der Zigarette, »daß du mich über die Störche ausfragst.«
    »Warum?«
    »Weil du nicht der erste bist. Im April sind zwei Männer hier aufgekreuzt und haben mir dieselben Fragen gestellt.«
    »Wer waren sie?«
    »Keine Ahnung. Sie waren jedenfalls ganz anders als du. Ich hielt sie für Bulgaren. Zwei üble Burschen, ein Großer und ein kleiner Dicker, denen ich nicht mal mein Hemd anvertraut hätte. Die Bulgaren sind sowieso Schurken, das weiß jeder.«
    »Wieso haben sie sich für die Störche interessiert? Waren sie Ornithologen?«
    »Angeblich waren sie im Auftrag einer internationalen Organisation unterwegs, die einen französischen Namen hatte: Monde Unique. Angeblich wegen einer ökologischen Untersuchung. Ich hab’ ihnen kein Wort geglaubt. Das waren zwei Schlägertypen, die mir eher wie Spione aussahen.«
    Monde Unique. Einzige Welt. Der Name weckte eine Erinnerung in mir. Eine internationale Vereinigung, die sich humanitären Aufgaben in allen Ländern der Welt widmet, insbesondere in Kriegsgebieten.
    »Was hast du ihnen gesagt?«
    »Nichts«, lächelte Joro. »Sie sind wieder abgezogen. Das ist alles.«
    »Haben Sie von Max Böhm gesprochen?«
    »Nein. Mit der Ornithologie hatten die nichts am Hut. Das waren Spitzel, sag’ ich dir.«
    Um halb zehn wurde es dunkel. Wir hatten nicht einen einzigen Storch gesehen, aber ich hatte eine Menge erfahren. In Sarovar, Joros Heimatdorf, ging der Abend mit tschechischem Budweiser und polternden slowakischen Wirtshausgeschichten zu Ende. Die Männer trugen Filzmützen, die Frauen waren in wadenlange Schürzen gewickelt, und jeder schrie aus vollem Hals, allen voran Joro, der sein übliches Phlegma vollkommen abgelegt hatte. Die Nacht war mild, und trotz der übermächtigen Gerüche von ranzigem Bratfett genoß ich diese Stunden in der Gesellschaft fröhlicher Leute, die mich so unkompliziert wie herzlich bei sich aufnahmen. Später brachte Joro mich ins Hilton von Bratislava, wo Böhm mir ein Zimmer reserviert hatte. Ich wollte Joro für die nächsten Tage engagieren, um gemeinsam mit ihm auf die Suche nach den Störchen zu gehen, und bot ihm ein Honorar dafür an. Der Slowake akzeptierte mit einem kleinen Lächeln. Blieb nur noch zu hoffen, daß auch die Vögel zum Stelldichein erschienen.

7
     
    Jeden Morgen um fünf Uhr holte Joro mich ab. Im phosphoreszierenden Blau der Nacht tranken wir auf dem kleinen Platz von Sarovar Tee und machten uns gleich danach auf den Weg. Zuerst zu den Hügeln über Bratislava mit seinen beißenden Rauchschwaden, dann durch Sturmwolken aus Staub und Dünger entlang den Feldern und Wiesen. Störche sahen wir selten. Manchmal, gegen elf Uhr vormittags, tauchte ein Heer über uns auf, so hoch am Himmel, daß es kaum zu sehen war. Fünfhundert schwarzweiße Vögel, die am blauen Firmament ihre Kreise zogen, geleitet von ihrem unfehlbaren Instinkt. Verblüffend war die spiralförmige Bewegung - ich hätte einen geradlinigen Flug erwartet, mit ausgebreiteten Flügeln und gerecktem Schnabel. Aber dann erinnerte ich mich an Böhms Worte: »Während der Wanderung fliegt der Weißstorch nicht aktiv, sondern gleitet im Segelflug, unter Ausnutzung der Thermik, die ihn trägt. Thermik, wissen Sie, das sind Aufwinde, hervorgerufen von der Einstrahlung der Sonne und der Erwärmung des Erdbodens, die wie unsichtbare Kanäle verlaufen ...« So bewegten die Vögel sich auf den warmen Luftströmen vorwärts in Richtung Süden.
    Abends zog ich die Satelliteninformationen zu Rate und erhielt die Position jedes einzelnen Storchs in Längen- und Breitengraden, exakt bis zu den Minuten. Mit Hilfe einer Straßenkarte ließ sich die Flugroute der Vögel leicht nachvollziehen: die jeweiligen Standorte trug ich auf meinem Laptop in eine digitalisierte Landkarte von Europa und Afrika ein und hatte auf diese Weise das Vergnügen, die Wanderung der Störche auf dem Bildschirm zu verfolgen.
    Man teilt die Störche in zwei Kategorien ein. Die westeuropäischen Störche fliegen über Spanien und die Straße von Gibraltar nach Nordafrika; bis der Schwarm Mali, Senegal, Zentralafrika und den Kongo erreicht, sind unterwegs Tausende von Individuen hinzugestoßen. Die osteuropäischen Störche, zehnmal so zahlreich, brechen von Polen, Rußland und Deutschland aus auf, überqueren den Bosporus, den Vorderen Orient, gelangen über den Suezkanal nach Ägypten und schließlich in den Sudan, nach Kenia und, noch tiefer,

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