Der Flug der Stoerche
hinterläßt, eine derartige Gier nach Leben, daß man mit dem Kopf gegen die Wand rennen möchte. Am Schluß war’s schon eine Zwangsvorstellung für mich, Marcel - diese Einsamkeit zu durchbrechen, Unbekanntes kennenzulernen, um jeden Preis. Als der alte Max mir den Vorschlag gemacht hat, auf den Spuren der Störche quer durch Europa, Nahost und Afrika zu reisen, habe ich keine Sekunde gezögert.«
Nun kam auch Yeta auf den Balkon; sie wurde ungeduldig. Der Kellner weigerte sich, ihr das bestellte Gericht zu servieren.
Nun hatten wir alle drei nichts gegessen. In der hereinbrechenden Dunkelheit wälzten sich schwarze Wolkenmassen wie dunkle Wolle über den abendlichen Himmel.
»Gehen wir wieder hinein«, sagte Marcel. »Es wird bald ein Gewitter geben.«
Ich bewohnte ein unpersönliches Hotelzimmer mit sparsamer
Beleuchtung. Draußen tobten Blitz und Donner, aber der Regen ließ auf sich warten. Die Hitze war erdrückend, eine Klimaanlage gab es nicht. Die Temperaturen hierzulande überraschten mich - in meiner Vorstellung hatte ich die Länder des Balkans stets mit trostloser Kälte, nicht vorhandener Heizung und Tschapkas in Verbindung gebracht.
Um 22.30 Uhr fragte ich die Argos-Daten ab. Die ersten zwei Störche von Sliven waren bereits unterwegs zum Bosporus. Sie waren am selben Abend um 18.15 Uhr in Svilengrad nahe der türkischen Grenze lokalisiert worden. Ein weiterer Storch war ebenfalls an diesem Abend in Sliven eingetroffen, und die anderen folgten unbeirrbar. Ich beobachtete auch die westliche Route: die acht Störche, die den Weg über Spanien und Marokko genommen hatten . Die meisten von ihnen hatten bereits die Straße von Gibraltar hinter sich gebracht und flogen jetzt auf die Sahara zu.
Draußen wütete noch immer das Gewitter. Ich legte mich aufs Bett, schaltete die Deckenbeleuchtung aus und die Nachttischlampe an und nahm mir zum erstenmal Rajkos Notizbuch vor. Es war eine einzige Hymne an die Störche. Rajko hatte wahrhaftig alles festgehalten: jeden vorbeiziehenden Vogel, die Anzahl der Nester und der Jungen, jeden Unfall . Er rechnete Durchschnittszahlen aus und bemühte sich, Systeme aufzustellen. Sein Heft war voller Zahlenreihen und Arabesken, die Max Böhm sicher sehr gefallen hätten. Am Rand notierte er seine Kommentare in linkischem Englisch: ernste, liebevolle und auch humoristische Überlegungen. Den Paaren, die in Sliven brüteten, hatte er Namen gegeben, die er in einem eigenen Verzeichnis erläuterte. So erfuhr ich, daß das Paar >Silberasche< sein Nest mit einem Teppich aus Moos auskleidete, das Männchen der Familie >Zauberschnabel< einen asymmetrischen Schnabel hatte und das Paar >Purpurfrühling< in einer roten Abenddämmerung sein Nest bezogen hatte.
Rajko hatte auch technische Schemata und anatomische Studien in seinen Beobachtungen festgehalten und Skizzen von verschiedenen Ringmodellen angefertigt, wie sie in Frankreich, Deutschland, Holland üblich waren, und natürlich auch von Max Böhms Ringen. Neben jeder Zeichnung standen das Datum und der Ort der Beobachtung. Ein Detail fiel mir auf: die zweifach beringten Störche trugen zwei unterschiedliche Modelle. Der Ring mit dem Geburtsdatum war schmal und aus einem Stück, während der zweite Ring, den Böhm später angebracht hatte, stärker war und ein Scharnier zu haben schien: er sah aus, als ließe er sich öffnen wie die zwei Backen einer Zange. Ich stand auf, um die Fotografien zu holen, und sah mir die Beine der Störche genauer an. Rajko hatte richtig gesehen: auf den Fotos waren deutlich zwei verschiedene Ringe zu erkennen. Ich dachte darüber nach, was das wohl bedeuten mochte, konnte mir aber keinen Reim darauf machen. Die Art der Beschriftung hingegen war identisch: Tag und Ort der Beringung, nichts weiter.
Draußen fing es endlich an zu regnen. Ich riß die Fenster auf und ließ einen Schwall kühler, frischer Luft herein. In der Ferne breitete Sofia seine Lichter aus wie eine einsame Galaxie im schwarzen All. Ich kehrte zu meiner Lektüre zurück.
Die letzten Seiten waren den Störchen vom Jahr 1991 gewidmet, Rajkos letztem Frühling. Auch er hatte wie Joro in den Monaten Februar und März festgestellt, daß Böhms Störche nicht zurückkamen. Wie Joro hatte er vermutet, daß ihr Ausbleiben auf Krankheit oder Verwundung zurückzuführen sei. Mehr hatte Rajko mir nicht zu sagen. Anhand seines Notizbuchs folgte ich den letzten Tagen seines Lebens. Am 22. April blieb die Seite leer.
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»Das
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