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Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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hatte Mühe, ihn wieder zur Vernunft zu bringen. Wir verließen die Örtlichkeit. Yeta kletterte hinter uns auf den Rücksitz und begriff nichts.
    In der Nähe des Slivener Bahnhofs erspähte ich eine Schenke, errichtet aus Fertigbauteilen, und schlug vor, dort einen türkischen Kaffee zu trinken. Eine halbe Stunde lang schimpfte Marcel auf Romani, bis er sich endlich beruhigt hatte. Hinter uns saßen mandelessende Zigeuner in raubtierhaftem Schweigen. Minaus konnte nicht widerstehen und richtete in seinem besten Romani das Wort an sie. Die Roma lächelten, dann antworteten sie, und kurz darauf stimmte Marcel ein schallendes Gelächter an. Seine gute Laune brach wieder durch. Es war zehn Uhr vormittags, und ich schlug meinem Begleiter vor, die Route zu wechseln und quer über Land zu fahren: vielleicht entdeckten wir Störche. Marcel stimmte begeistert zu. Ich fing an, seinen Charakter ein wenig besser zu verstehen: Minaus war selbst ein Nomade, nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Er lebte ausschließlich in der Gegenwart. Von einem Augenblick zum anderen konnte seine Stimmung umschlagen und sich um hundertachtzig Grad drehen.
    Wir fuhren zuerst durch Weinberge, in denen Heerscharen von Romni Trauben lasen, über die knorrigen Rebstöcke gebeugt. Der süße Duft der Trauben erfüllte die Luft und drang bis zu uns. Als wir vorbeifuhren, drehten die Frauen sich um und winkten. Immer dieselben Gesichter, stumpf und dunkel. Immer dieselben Kleider in lebhaften Farben; manche Frauen hatten sich die Nägel scharlachrot lackiert. Dann öffnete sich vor uns die endlose, menschenleere Ebene, in der ab und zu ein Baum aufragte. Aber meistens sahen wir nur den Sumpf, der sich in schwarzen und glänzenden Streifen durch Gräser und Gesträuch zog.
    Auf einmal erkannte ich in der Ferne eine lange weiße Linie in der Landschaft. »Da sind sie«, murmelte ich. Marcel griff nach meinem Fernglas und richtete es auf die Gruppe. Gleich darauf befahl er mir: »Bieg hier ab«, und deutete auf einen schmalen Pfad am rechten Straßenrand. Durch tiefe Lehmfurchen hielt ich langsam auf die Störche zu. Es waren mehrere hundert: stumm, reglos und aufrecht standen sie auf einem Bein. »Mach den Motor aus«, flüsterte Marcel. Wir stiegen aus und gingen näher. Ein paar Vögel erzitterten, schlugen mit den Flügeln und flogen auf. Wir blieben stehen. Dreißig Sekunden. Eine Minute. Nach und nach erwachten die Vögel zum Leben und begannen, elegant einherschreitend, mit den Schnäbeln in der Erde zu picken auf der Suche nach Nahrung. Vorsichtig machten wir noch ein paar Schritte; die Störche waren nur noch dreißig Meter von uns entfernt. Marcel flüsterte: »Bleiben wir stehen. Näher werden wir’s nicht schaffen.« Ich griff zum Fernglas und beobachtete die Störche: kein einziger war beringt.
    Auf Marins Lichtung ging der Vormittag zu Ende. Diesmal empfingen die Roma uns herzlicher. Ich erfuhr die Namen der Frauen: Sultana, die Matrone im sonnenblumengelben Pullover, war Marins Frau, Zainepo mit der gebrochenen Nase war mit Mermet verheiratet, und Katio, die Rothaarige, die im Stehen die Fäuste in den Hüften zu stemmen pflegte, mit Kosta. Mariana, Rajkos Witwe, wiegte Denke auf dem Schoß, ihren drei Monate alten Säugling. Die Sonne stand hoch am Himmel, und aus dem Waldboden stieg ein betörender Duft, begleitet vom Summen der Insekten.
    »Ich würde gern mit demjenigen sprechen, der die Leiche gefunden hat«, sagte ich endlich.
    Marcel verzog das Gesicht, übersetzte aber gleichwohl meine Bitte, woraufhin Marin mich mit Abscheu musterte und Mermet herbeirief, einen Koloß mit dunkler Haut und scharfen Gesichtszügen unter einer glänzenden schwarzen Haarmähne. Der Roma hatte nicht die geringste Lust zu reden. Er rupfte einen Grashalm aus und begann mit abwesender Miene darauf herumzukauen, während er ein paar Worte in sich hineinmurmelte.
    »Es gibt nichts zu sagen«, übersetzte Marcel. »Mermet hat Rajko im Wald gefunden. Die ganze Familie hat auf der Suche nach ihm das Land durchkämmt, nur Mermet wagte sich in ein Gebiet vor, in das sonst nie einer geht, weil es dort angeblich Bären gibt. Und dort hat er die Leiche gefunden.«
    »Wo genau? Im Unterholz? Auf einer Lichtung?«
    Marcel übersetzte meine Frage, Mermet antwortete. Dann ergriff Minaus wieder das Wort: »Auf einer Lichtung. Das Gras wirkte wie plattgetreten.«
    »Aber Spuren gab es nicht im Gras?«
    »Keine einzige.«
    »Und auch keine Hinweise in der näheren

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