Der Flug der Stoerche
jahrhundertealte Nomadentum der Zigeuner ist wahrscheinlich eher eine Reaktion auf die Verfolgungen, den unausrottbaren Rassismus der gadsche.«
Um sechs Uhr morgens hielt Marcel bereits Vorträge, während ich durch die langfingrige Morgenröte der bulgarischen Landschaft fuhr.
»Die nichtseßhaften Zigeuner sind die ärmsten und unglücklichsten. Jedes Frühjahr machen sie sich auf den Weg und träumen dabei von einem großen, geheizten Haus. Gleichzeitig aber, und das ist das Paradoxe, ist das Nomadentum in der Kultur der Zigeuner nach wie vor fest verwurzelt. Selbst die seßhaften Roma gehen immer wieder auf Reisen. Auf diese Weise lernen die Männer ihre künftigen Frauen kennen, schließen sich Familien zusammen. Diese Tradition ist viel mehr als ein bloßer Ortswechsel. Sie ist eine Geisteshaltung, eine Lebensform. Das Haus eines Roma ist immer wie ein Zelt gebaut: ein großes Zimmer, in dem sich das gesamte Gemeinschaftsleben abspielt und in dem alle Möbel, Gebrauchs- und Dekorationsgegenstände an die Ausstattung eines Wohnwagens erinnern.«
Auf dem Rücksitz schlief Yeta. Wir hatten den 31. August, und mir blieben nur noch sechzehn Stunden in Bulgarien. Mir war sehr daran gelegen, noch einmal nach Sliven zu fahren, um mit Marin zu sprechen und mir die Lokalzeitungen vom 23. und 24. April 1991 vorzunehmen. Zwar hatte die Polizei den Fall zu den Akten gelegt, aber vielleicht hatten zumindest die Journalisten unmittelbar nach der Entdeckung der Leiche das eine oder andere Detail herausgefunden. Es waren nichts als Versuchsballons, von deren Nützlichkeit ich nicht sehr überzeugt war, aber auf jeden Fall würden sie mir bis zu meinem Gespräch mit Dr. Djuric am späten Nachmittag die Zeit vertreiben. Außerdem wollte ich nicht den Augenblick verpassen, in dem in der weiten Ebene die Störche erwachten.
Unsere Besuche in den Zeitungsredaktionen waren ergebnislos, die Artikel über den Fall Rajko Nikolitsch waren nichts als ein Schwall rassistischer Reden. In einem hatte Markus Lasarewitsch recht: Rajkos Tod hatte die Phantasie beflügelt.
Der Atküno vertrat die These einer internen Abrechnung: angeblich seien sich zwei Zigeunersippen wegen eines Sammelgebietes in die Haare geraten. Der Artikel schloß mit einer Brandrede gegen die Roma, wobei der Verfasser sich auf etliche Skandale berief, die während der vergangenen Monate Sliven erschüttert und bei denen die Zigeuner eine zentrale Rolle gespielt hätten. Das Verbrechen an Rajko sei also ein Höhepunkt der Feindseligkeiten. Aber man dürfe nicht zulassen, daß die Wälder Austragungsort von Zigeunerkriegen würden und eine Gefahr für die bulgarischen Bauern, vor allem für ihre Kinder, die in den Wäldern spazierengingen. Marcel sah rot, während er mir den Artikel übersetzte.
Der Kutha hingegen, das Sprachrohr der Oppositionspartei UDF, beutete den Aberglauben aus. Das Fehlen jeglicher Indizien veranlaßte den Verfasser des Artikels, ein Sammelsurium an Spekulationen auszubreiten, die allesamt auf Magie und Hexerei beruhten. Demnach hatte Rajko höchstwahrscheinlich einen >Fehler< begangen, und zur Strafe war ihm das Herz herausgerissen und den Raubtieren zum Fraß vorgeworfen worden. Der Artikel schloß mit einer Warnung in apokalyptischen Tönen an die Einwohner von Sliven, sich vor den Zigeunern nur ja in acht zu nehmen, einem wahrhaft teuflischen Gewürm.
Der Jägerverband schließlich brachte nur einen kurzen Bericht, im wesentlichen eine Aneinanderreihung sämtlicher Schändlichkeiten, die auf das Konto der Roma gingen: angezündete Häuser, Gewaltverbrechen, Diebstahl und Straßenraub, Schlägereien und andere Untaten bis hin zum Vorwurf des Kannibalismus wurden in durchaus unbeteiligtem Ton aufgezählt. Zur Bekräftigung zitierte der Redakteur einen Fall aus der ungarischen Lokalchronik des neunzehnten Jahrhunderts, bei dem die Zigeuner der Menschenfresserei beschuldigt worden waren.
»Was sie natürlich verschweigen«, schrie Marcel, »ist, daß die Roma von der Anklage freigesprochen wurden! Übrigens zu spät, denn bis dahin waren bereits mehr als hundert Zigeuner in den Sümpfen gelyncht worden.«
Die Menschenfresserei brachte das Faß zum Überlaufen: Minaus geriet in einen heiligen Zorn und tobte furiengleich durch die alte Druckerei, brüllte nach dem Chefredakteur, warf mit Papierballen, goß Druckertinte auf den Boden, packte den alten Mann, der uns die Benutzung des Archivs erlaubt hatte, beim Kragen und beutelte ihn. Ich
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