Der Flug der Stoerche
Zigeuner, der im April im Wald von Sliven ermordet wurde. Man hat mir gesagt, daß Sie die Autopsie vorgenommen haben, und deshalb würde ich Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Sind Sie von der französischen Polizei?«
»Nein. Aber dieser Mordfall steht möglicherweise in Zusammenhang mit einer Nachforschung, die ich derzeit anstelle. Natürlich zwingt Sie nichts, mir zu antworten. Aber lassen Sie mich Ihnen die Geschichte erzählen, und urteilen Sie selbst, ob mein Anliegen es wert ist, daß man sich damit befaßt.«
»Ich höre.«
Ich begann ihm also mein Abenteuer zu schildern: den Auftrag, den Max Böhm mir ursprünglich erteilt hatte, den Tod des Vogelkundlers, die Geheimnisse, die sich um seine Vergangenheit renkten, die befremdlichen Details, die mir unterwegs begegnet waren - die beiden Bulgaren, die sich ebenfalls für die Störche interessierten, die Organisation Monde Unique, von der immer wieder die Rede war ...
Die ganze Zeit über hörte der Doktor sich meinen Monolog an, ohne mit der Wimper zu zucken. Erst als ich geendet hatte, fragte er: »Und was hat das mit Rajkos Tod zu tun?«
»Rajko war Ornithologe. Er hat auf den Durchzug der Störche gewartet. Ich bin mittlerweile sicher, daß hinter diesen Vögeln irgendein Geheimnis steckt. Ein Geheimnis, dem Rajko dank seiner Beobachtungen möglicherweise auf der Spur war. Ein Geheimnis, das ihn möglicherweise das Leben gekostet hat. Ich kann mir vorstellen, Herr Doktor Djuric, daß meine Spekulationen Ihnen aus der Luft gegriffen scheinen. Aber Sie haben die Autopsie der Leiche durchgeführt. Sie könnten mir Näheres darüber sagen. Ich habe innerhalb von zehn Tagen dreitausend Kilometer zurückgelegt, und ungefähr zehntausend liegen noch vor mir. Heute abend um elf sitze ich im Zug nach Istanbul. In Sofia sind Sie der einzige, von dem ich noch etwas erfahren kann.«
Djuric fixierte mich eine Zeitlang stumm, dann zog er ein Päckchen Zigaretten hervor, bot mir eine an - die ich dankend ablehnte - und zündete sich daraufhin mit einem massiven verchromten Feuerzeug, das einen intensiven Benzingeruch verbreitete, selbst eine an. Einen Augenblick entzog ihn eine dichte blaue Rauchwolke meinem Blick. Dann fragte er in gleichmütigem Ton: »Ist das alles?«
Ich spürte einen Zorn in mir aufsteigen. »Nein! Es gibt in dieser Geschichte noch einen weiteren Zufall, der sich mit den Störchen schwerlich in Verbindung bringen läßt, aber nicht weniger beunruhigend ist: Max Böhm hat mit einem transplantierten Herzen gelebt, aber es gibt keinerlei medizinische Unterlagen über ihn, in keiner Klinik, bei keinem Arzt.«
»Aha, da haben wir’s«, sagte Djuric und streifte seine Asche ab. »Man hat Ihnen wahrscheinlich berichtet, daß Rajkos Herz gestohlen wurde, und daraus haben Sie Rückschlüsse auf einen Organschmuggel gezogen, oder was weiß ich.«
»Na ja .«
»Alles Quatsch. Hören Sie zu, Monsieur Antioche. Ich lege keinen Wert darauf, Ihnen zu helfen. Ich werde niemals einem gadscho helfen. Aber zur Erleichterung meines Gewissens kann ich Ihnen ein paar Erklärungen geben.« Djuric zog eine Schublade auf und nahm ein paar aneinandergeheftete Papiere heraus, die er vor sich auf den Schreibtisch legte. »Das ist der Autopsiebericht, in dem ich am 23. April 1991 nach vierstündiger Arbeit in der Turnhalle von Sliven meine Beobachtungen an der Leiche von Rajko Nikolitsch festgehalten habe. Erinnerungen wie diese zählen doppelt. Ich habe mich bemüht, den Bericht auf bulgarisch zu verfassen. Genauso gut hätte ich ihn in Romani schreiben können. Oder in Esperanto. Es hat ihn ohnehin keiner gelesen. Bulgarisch verstehen Sie nicht, wie? Ich gebe Ihnen also eine Zusammenfassung.« Er griff nach den Blättern und nahm die Brille ab. »Zuerst die Umstände. Am 23. April morgens machte ich meine übliche Runde durch das Ghetto von Sliven. Kosta und Mermet Nikolitsch, zwei Pflücker, die ich gut kenne, suchten mich auf. Sie hatten soeben Rajkos Leiche entdeckt und waren überzeugt, ihr Vetter sei von einem Bären angegriffen worden. Als ich dann die Leiche auf der Lichtung sah, war mir klar, daß das nicht der Fall sein konnte. Die entsetzlichen Wunden, die Rajkos ganzen Körper bedeckten, waren offenkundig von zweierlei Herkunft. Einmal waren es tatsächlich Bisse von Tieren, die allerdings erst nach dem Tod erfolgt sind. Die anderen Wunden wurden durch chirurgische Instrumente verursacht. Außerdem waren in der Umgebung der Leiche kaum Blutspuren
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