Der Flug der Stoerche
sonderbarer Kauz«, sagte er. »Ein Einzelgänger unter den Zigeunern. Keiner weiß, woher er eigentlich stammt. Er spricht perfekt Französisch. Es heißt, er hat sein Medizinstudium in Paris absolviert. In den sechziger Jahren ist er auf dem Balkan aufgetaucht. Seitdem zieht er durch Bulgarien, Jugoslawien, Rumänien, Albanien und hält kostenlose Sprechstunden ab. Mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, versorgt er die Roma und verbindet die moderne Medizin mit den botanischen Kenntnissen der Zigeuner - auf diese Weise hat er mehreren Frauen, die in Ungarn oder der Tschechoslowakei sterilisiert worden waren und schwere Blutungen hatten, das Leben gerettet. Daraufhin hat man ihn beschuldigt, er führe heimlich Abtreibungen durch. Er ist sogar verurteilt worden, zweimal, glaube ich. Aufgrund von Falschaussagen. Kaum war er aus dem Gefängnis entlassen, hat er seine ambulante Praxis wiederaufgenommen. In der Welt der Roma ist Djuric eine Berühmtheit, fast ein Mythos. Man schreibt ihm magische Kräfte zu. Aber du solltest allein hingehen. Vielleicht ist er bereit, mit einem gadscho zu sprechen - zwei wären auf jeden Fall zuviel.«
Eine Stunde später, gegen sechs Uhr abends, erreichten wir den Stadtrand von Sofia. Wir fuhren zunächst durch heruntergekommene Viertel, gesäumt von tiefen Gräben, dann vorbei an einem freien Gelände, auf dem Zigeuner ihr Lager aufgeschlagen hatten und verbissen ums Überleben kämpften. Ihre triefendnassen Zelte schienen im aufgeweichten Schwemmland fast zu versinken. Ein lachhafter Anblick: in dieser Apokalypse aus Regen und Schlamm hängten Zigeunermädchen in weiten, orientalischen Pluderhosen Wäsche auf die Leine. Freimütige Blicke, hier und dort ein flüchtiges Lächeln. Wieder einmal trafen die Schönheit und der Stolz dieses Volkes mich mitten ins Herz.
Ich bog in den Lenin-Boulevard ein und setzte Marcel und Yeta am Naradno-Sabranie-Platz ab; die beiden besaßen dort in der Nähe eine Zweizimmerwohnung. Marcel bestand darauf, mir den Weg zu Milan Djuric zu erklären. Er zog ein abgegriffenes Notizbuch hervor und füllte eine ganze Seite mit Schemazeichnungen samt Hinweisen in kyrillischer Schrift. »Du kannst ihn unmöglich verfehlen«, behauptete er, während er mich mit Straßennamen, Abzweigungen, nutzlosen Einzelheiten überhäufte. Zuletzt schrieb er mir Djurics exakte Adresse in lateinischen Buchstaben auf. Beide waren nicht davon abzubringen, mich abends zum Bahnhof zu begleiten, und so verabredeten wir uns für acht Uhr an derselben Stelle.
Ich fuhr zurück zum Sheraton, packte meine Tasche und zahlte die Rechnung mit etlichen dicken Bündeln von Geldscheinen, und nachdem ich erfahren hatte, daß keine Nachrichten für mich eingetroffen waren, fuhr ich um halb sieben wieder durch die Straßen von Sofia der Sanften.
Noch einmal folgte ich dem Ruski-Boulevard, dann bog ich nach links ab in die Ulica General Wladimir Zaimow. In den Pfützen spiegelten sich die Neonlichter. Ich gelangte auf einen Hügel, hinter dem sich ein regelrechter Wald erstreckte. »Du mußt mitten durch den Park«, hatte Marcel gesagt, und so fuhr ich mehrere Kilometer weit durch dichten Wald. Später kam ich durch triste Siedlungen entlang einem schnurgeraden, breiten Boulevard, und endlich entdeckte ich die Straße, die ich suchte. Ich bog ab, zögerte, dann fuhr ich langsam weiter, die nichtssagenden Wohnblocks entlang, während der Boden des Wagens mehrmals auf der aufgerissenen Straße aufschlug, und hielt aufmerksam Ausschau. Laut Auskunft wohnte der Doktor im Gebäude 3C, aber die Nummer war nirgends zu sehen. Deshalb zeigte ich ein paar Roma-Kindern, die im Regen spielten, die Adresse auf Marcels Wegbeschreibung. Sie krümmten sich vor Lachen und zeigten auf das Haus direkt vor mir.
Im Hausflur war es unerträglich heiß und die Luft gesättigt von diffusen Gerüchen nach Bratenfett, Kohl und Müll. Am anderen Ende bearbeiteten zwei Männer die Tür des Aufzugs - zwei schweißüberströmte Kolosse, deren Muskeln im kalten Licht einer elektrischen Birne glänzten. Ich ging auf sie zu. »Dr. Djuric?« fragte ich. Einer der beiden hielt zwei Finger hoch, und ich stieg in den zweiten Stock hinauf. Hinter der Tür mit dem Namensschild des Arztes tobte ein höllischer Lärm. Ich läutete. Mehrmals. Schließlich wurde die Tür geöffnet, und der Krach sprang mich an wie eine wilde Katze. Vor mir stand eine Frau, türkisfarben gekleidet, sehr rund und sehr dunkel. Ich sagte ihr
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