Der Flug der Stoerche
zu sehen - bei diesen Wunden hätte Rajko in einer Blutlache schwimmen müssen. Das war aber nicht der Fall. Außerdem war die Leiche nackt, und es ist höchst unwahrscheinlich, daß ein Raubtier sich die Mühe macht, sein Opfer auszuziehen. Ich bat also die Nikolitschs, die Leiche zur Autopsie nach Sliven zu bringen. Wir suchten zuerst ein Krankenhaus. Das war natürlich sinnlos. Schließlich sind wir in der Turnhalle gelandet, wo ich arbeiten und, zumindest in groben Zügen, Rajkos letzte Stunden nachvollziehen konnte. Hören Sie also zu:
Auszüge aus dem Autopsiebericht vom 23. 4.1991.
Subjekt: Rajko Nikolitsch, männlich. Nackt. Geboren in Iskenderun, Türkei, etwa 1963. Wahrscheinlicher Zeitpunkt des Todes: 22. 4. 1991, eingetreten zwischen 20 Uhr und 24 Uhr infolge einer tiefen Wunde in der Herzgegend. Die Leiche wurde im sogenannten Klarwasserwald nahe Sliven, Bulgarien, gefunden.«
Djuric hob den Blick und bemerkte: »Die allgemeine Darstellung des Zustands übergehe ich. Hören Sie sich die Beschreibung der Wunden an: Oberer Teil des Körpers. Gesicht unversehrt bis auf Anzeichen einer Knebelung am Mund. Durchtrennte Zunge (das Opfer hat sich wahrscheinlich selbst die Zunge durchgebissen). Keine sichtbaren Anzeichen einer Quetschung im Nackenbereich. Die Untersuchung der Thoraxvorderseite ergibt eine längs verlaufende, geradlinige Wunde vom Schlüsselbein bis zum Nabel. Es handelt sich dabei um einen präzisen Schnitt, der vermutlich mit einem chirurgischen Instrument durchgeführt wurde, möglicherweise einem elektrischen Operationsmesser, denn an den Wundrändern ist fast keine Blutung aufgetreten. Außerdem stellen wir zahlreiche Schnittwunden am Hals, der Thoraxvorderseite sowie den Armen fest, die mit einem anderen Schneidewerkzeug ausgeführt wurden. Nahezu vollständige Amputation des rechten Arms in Schulterhöhe. Zahlreiche Klauenspuren an den Rändern des Thoraxschnitts, vermutlich von einem Bären und/oder Luchs stammend. Zahlreiche Bißwunden: am Oberkörper, den Schultern, den Seiten und den Armen. Wir zählen etwa fünfundzwanzig ovale Wunden, die allesamt am Rand Zahnspuren aufweisen, jedoch ist das Fleisch zu sehr zerklüftet, um Abdrücke nehmen zu können. Rücken unversehrt. Fesselspuren an Schultern und Handgelenken.«
Djuric unterbrach sich, um seine Zigarette auszudrücken, dann fuhr er fort:
»Die Untersuchung der oberen Hälfte des Brustraums ergibt das Fehlen des Herzens. Die Herzarterien und -venen wurden sorgfältig abgetrennt, so weit wie möglich entfernt von dem entnommenen Organ, was die klassische Methode zur Vermeidung von Traumata am Herzen ist. Weitere Organe, Lunge, Leber, Magen, Gallenblase, sind stark beschädigt, zum Teil verstümmelt, vermutlich von wilden Tieren aufgefressen. An den getrockneten Fetzen von organischem Gewebe, die sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Körpers gefunden wurden, lassen sich keine Abdrücke vornehmen. Kein Anzeichen einer Blutung im Brustraum.
Unterer Teil des Körpers. Tiefe Wunden in der rechten Leistenregion unter Bloßlegung der Oberschenkelarterie. Zahlreiche Verletzungen an den Geschlechtsorganen und den Oberschenkeln, entstanden offenbar durch wiederholte Hiebe mit einem Schneideinstrument. Der Penis hängt nur noch an wenigen Gewebesträngen. Zahlreiche Krallenspuren an den Schenkeln. Spuren von Tierbissen an beiden Beinen. Die Innenseite des rechten Schenkels weist tiefe Zahnabdrücke auf. Fesselspuren an Schenkeln, Knien und Knöcheln.«
Djuric sah auf und sagte: »Soviel zur postmortalen Untersuchung, Monsieur Antioche. Ich habe ferner einige toxikologische Analysen durchgeführt und dann die Leiche in gesäubertem Zustand der Familie übergeben, denn damit wußte ich genug über den Tod eines Roma, der auf keinen Fall eine polizeiliche Ermittlung nach sich ziehen würde.«
Ich fror am ganzen Körper, und das Atmen gelang mir nur mit Mühe. Djuric setzte die Brille wieder auf und zündete sich eine neue Zigarette an. Hinter dem Rauch verschwamm sein gefurchtes Gesicht.
»Meiner Ansicht nach hat sich folgendes zugetragen: Am Abend des 22. April wurde Rajko mitten im Wald überfallen. Man hat ihn gefesselt und geknebelt und danach den langen Einschnitt am Brustkorb vorgenommen. Das Herz wurde absolut sachgemäß herausgetrennt, fraglos von einem ausgebildeten Chirurgen. Ich würde dies als Phase eins des Mordes bezeichnen, die Rajkos Tod zur Folge hatte - daran besteht kein Zweifel. Bis zu diesem Stadium ist
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