Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Flug der Stoerche

Der Flug der Stoerche

Titel: Der Flug der Stoerche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
Umgebung?
    Fußabdrücke? Reifenspuren?«
    »Nein. Die Lichtung liegt tief im Wald. Dorthin kommt kein Auto.«
    »Und die Leiche?« fuhr ich fort. »Wie wirkte sie? Kann man annehmen, daß Rajko sich möglicherweise gewehrt hat?«
    »Schwer zu sagen«, antwortete Marcel, nachdem er Mermet zugehört hatte. »Er lag ausgestreckt auf dem Rücken, die Arme am Körper. Seine Haut war überall aufgeschlitzt, und seine Eingeweide hingen durch einen bräunlichen Schlitz heraus, der etwa hier anfing -« Marcel zeigte auf sein Herz. »Merkwürdig war sein Gesicht. Wie zweigeteilt. Die Augen aufgerissen, ganz weiß. Voller Panik. Aber der Mund war geschlossen, ruhig, eigentlich friedlich.«
    »Ist das alles? Sonst nichts Auffälliges?«
    »Nein.«
    Mermet schwieg ein paar Sekunden, während er weiter auf seinem Grashalm kaute, dann fügte er hinzu: »Am Tag vorher muß es ein fürchterliches Gewitter gegeben haben. Denn überall lagen abgerissene Zweige und Äste herum, junge Bäume waren umgestürzt.«
    »Eine Frage noch: Hat Rajko nichts erwähnt, vielleicht eine Entdeckung, die er gemacht hat? Hatte er vielleicht vor irgendwas Angst?«
    Durch Marcels Mund sprach Mermet das letzte Wort: »Es hatte ihn ja zwei Monate lang keiner mehr gesehen.«
    Ich trug die Fakten in mein Notizbuch ein, dann dankte ich Mermet. Er schüttelte kaum merklich den Kopf, er wirkte wie ein Wolf, dem man eine Schüssel Milch hinstellt. Wir gingen zum Lager zurück. Die Kinder bestanden darauf, ein paar ihrer Kassetten im Auto abzuspielen, und so verwandelte sich der Volkswagen mit weit offenen Türen im Handumdrehen in eine Zigeunerkapelle, deren rasender Galopp aus Klarinette, Trommel und Akkordeon weithin durch den Wald schallte. Ich war eigentlich erstaunt: wie jedermann hatte ich geglaubt, die Zigeunermusik bestünde vorwiegend aus schluchzenden Geigen und Pathos. Diese schrillen, aufgeregten Klänge hatten eher etwas von der quälenden Eindringlichkeit eines Derwischtanzes.
    Sultana bot uns türkischen Kaffee an: eine bittersüße Flüssigkeit auf einer dicken Schicht Satz. Ich kostete vorsichtig. Marcel trank genüßlich in kleinen Schlucken, während er sich lebhaft mit der sonnenblumengelben Frau unterhielt; ich nahm an, daß die beiden über Kaffee sprachen, über Zubereitungsarten und Rezepte. Als er ausgetrunken hatte, stellte er die Tasse umgestülpt auf die Untertasse und ließ ein paar Minuten verstreichen. Endlich drehte er sie wieder um und studierte mit Kennerblick und mit Hilfe von Sultana den Verlauf der Bahnen und Pfade, in die der Kaffeesatz zerlaufen war, und ich fragte mich, was sie wohl darin lasen.
    Währenddessen stand ich ein wenig verlegen herum, lächelte aufs Geratewohl in die Runde, innerlich aber war ich aufgeregt. Für Marin und die anderen gehörte Rajkos Tod bereits der Vergangenheit an (Marcel hatte mir erklärt, daß der Name eines Verstorbenen nach Jahresfrist freigegeben wird: dann kann man ihn einem Neugeborenen geben, ein Festessen veranstalten und fortan in Frieden schlafen, denn nun spukt der Geist des Toten nicht mehr in den Träumen seiner Brüder). Für mich hingegen löste dieser Tod die Gegenwart vollkommen auf. Und mehr noch wahrscheinlich die Zukunft.
    Um zwei Uhr mittags war der Himmel wieder bewölkt. Wir mußten uns auf den Weg machen, um Milan Djuric am Spätnachmittag in Sofia zu erreichen. Wir verabschiedeten uns von der kumpania unter Lächeln und Umarmungen und brachen auf.
    Unterwegs kamen wir durch die Vorstadt von Sliven: staubige Elendsviertel mit ungeteerten Straßen, auf denen hier und dort ausgeschlachtete Karosserien lagen. Ich fuhr langsamer. »Ich habe viele Freunde hier«, sagte Marcel. »Aber das will ich dir lieber ersparen. Fahren wir weiter.« Vom Straßenrand aus winkten uns Kinder nach: »Gadsche, gadsche, gadsche!« Sie waren barfuß, die Gesichter dreckverschmiert und die Haare zottelig und stumpf vom Staub, Ich gab Gas. Nach einer Weile brach ich das Schweigen. »Marcel« fragte ich, »sag mir eins: warum sind die Roma-Kinder derart dreckig?«
    »Nicht wegen mangelnder Reinlichkeit oder Verwahrlosung. Das ist eine Tradition. Die Roma glauben, ein Kind ist so schön, daß es die Eifersucht der Erwachsenen und damit leicht den bösen Blick auf sich zieht. Deshalb wäscht man die Kinder nicht. Es ist eine Art Verkleidung. Um ihre Schönheit und Reinheit vor den Augen der anderen zu verbergen.«

14
     
    Auf der Rückfahrt erzählte Marcel mir von Milan Djuric.
    »Ein

Weitere Kostenlose Bücher