Der Flug der Stoerche
meinen Namen und fragte nach Djuric. Schließlich forderte sie mich auf, einzutreten, ließ mich dann aber in einem engen Flur mit intensivem Knoblauchdunst und einer Armee von Schuhen stehen. Also zog ich ebenfalls die Schuhe aus und wartete, während mir der Schweiß übers Gesicht rann.
Türen knallten, der Lärm wurde kurzfristig lauter, dann legte er sich ein wenig. Nach einigen Sekunden erkannte ich hinter dem Stimmengewirr dieselbe Musik, die Marin und seine Leute in meinem Wagen gehört hatten, dieselben rasenden Klänge, dieselben gewundenen Klarinetten- und Akkordeonläufe. Diesmal aber beteiligte sich auch eine Stimme am Kampf der Instrumente. Eine Frauenstimme, rauh und herzzerreißend.
»Hübsche Stimme, nicht wahr?«
Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich in die Dunkelheit. Am Ende des Flurs stand ein Mann, reglos: Dr. Milan Djuric. Marcel, wie üblich in seinen Träumen versunken, hatte mir das hervorstechendste Merkmal verschwiegen: Milan Djuric war ein Zwerg. Kein wirklich winziger Zwerg - er maß wohl eineinhalb Meter -, aber er wies bestimmte charakteristische Züge der Zwergwüchsigkeit auf. Sein Kopf schien gewaltig, der Oberkörper mächtig und breit, die krummen, dürren Beine hingegen wirkten in der Dunkelheit wie Vogelklauen. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen.
»Das ist Esma«, fing Djuric wieder an, mit tiefer Stimme, in tadellosem Französisch. »Unsere Diva. Die ersten Unruhen in Albanien haben mit ihren Konzerten begonnen. Wer sind Sie, mein Herr?«
»Ich heiße Louis Antioche«, antwortete ich. »Franzose. Ich komme auf Empfehlung von Marcel Minaus. Hätten Sie wohl ein paar Minuten Zeit für mich?«
»Kommen Sie mit.«
Der Doktor drehte sich auf dem Absatz um und entschwand nach rechts. Ich folgte ihm. Wir gingen durch ein Wohnzimmer, in dem der Fernsehapparat dröhnte. Auf dem Bildschirm eine üppige rothaarige Frau, verkleidet als Bäuerin, die sang und sich drehte wie ein rotweißer Kreisel, begleitet von einem alten Akkordeonisten in der Tracht eines russischen Bauern. Der Anblick war eher niederschmetternd, die Musik aber ging mir durch Mark und Bein. Der Raum war voller Roma, die noch lauter schrien als der Fernseher. Sie tranken und aßen und gestikulierten unter schallendem Gelächter. Die Frauen trugen schwere, matt funkelnde Ohrringe und lange, sehr schwarze Zöpfe, die Männer kleine Filzhüte.
Wir betraten Djurics Arbeitszimmer. Er schloß die Tür und ließ zusätzlich einen dicken Vorhang herab, der den Lärm von draußen dämpfte.
Ich sah mich um. Der Teppichboden war abgetreten, die Möbel wirkten wie aus Karton; in einer Ecke stand ein eisernes Bett mit Gurten, daneben ein Regal mit gläsernen Zwischenböden, auf denen verrostete chirurgische Instrumente aufgereiht waren. Einen kurzen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, ich sei tatsächlich in eine illegale Abtreibungspraxis oder das Studio eines obskuren Operateurs vorgedrungen. Gleich darauf aber schämte ich mich dafür: wegen dieser Sorte von Vorurteilen hatte Djuric mehrmals im Gefängnis gesessen. Milan Djuric war nichts anderes als ein Arzt aus dem Volk der Roma, der sich um andere Roma kümmerte.
»Setzen Sie sich«, sagte er.
Ich entschied mich für einen roten Polstersessel mit brüchigen Armlehnen. Djuric blieb noch einen Moment in voller Länge vor mir stehen, und ich hatte Gelegenheit, ihn ausgiebig zu betrachten. Sein Gesicht war faszinierend: geschmeidige und regelmäßige Züge, aber wie aus Borke geschnitzt, mit großen grünen, leicht hervortretenden Augen hinter einer dicken Hornbrille. Er mochte etwa vierzig sein, schien aber vorzeitig gealtert. Tiefe Furchen gruben sich in die dunkle Haut, und das dichte Haar war von metallischem Grau, doch verriet manches an ihm eine unerwartete Kraft und Dynamik, seine Arme zum Beispiel, die so muskulös waren, daß der Stoff des Hemds sich darüber spannte. Jetzt, bei Licht, schienen mir die Proportionen seines Oberkörpers durchaus normal. Milan Djuric drehte sich um und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Der Regen trommelte ans Fenster, stärker als zuvor. Ich machte dem Arzt ein Kompliment für sein hervorragendes Französisch.
»Ich bin in Frankreich aufgewachsen. Und ich habe in Paris studiert, an der medizinischen Fakultät in der Rue des Saints- Peres.« Er brach ab, setzte aber sogleich hinzu: »Lassen wir die Höflichkeiten, Monsieur Antioche. Was wollen Sie?«
»Ich möchte mit Ihnen über Rajko Nikolitsch sprechen, den
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