Der Flug der Stoerche
Leiden mit bloßen Händen auskosten und nach Belieben im zuckenden Fleisch wühlen wollen. Und schließlich spricht auch der Befund des Mundes für meine Vermutung: Rajko hat sich vor Schmerzen die Zunge glatt durchgebissen und ist erstickt an Fleischfetzen und Blut, die ihm die Kehle verstopften. Das ist die Wahrheit, Monsieur Antioche. Diese Operation ist eine Ungeheuerlichkeit, eine barbarische Untat, wie sie nur einem kranken Gehirn entspringen kann, das dem Wahnsinn verfallen ist, möglicherweise auch einem Rassenwahn.«
»Macht die Tatsache, daß der Spender bei Bewußtsein war, das Herz nicht unbrauchbar?« beharrte ich. »Ich meine, zerstören die Krämpfe des Leidens nicht die Funktionsfähigkeit eines Organs?«
»Sie sind hartnäckig, wie? Nein, paradoxerweise nicht. Schmerz, selbst wenn er noch so extrem ist, beeinträchtigt nicht das Herz. In dem Fall schlägt es zwar schneller, gerät außer Kontrolle und stellt schließlich die Durchblutung des Körpers ein, aber für die Funktionstüchtigkeit des Organs an sich spielt das keine Rolle. Was mir unbegreiflich ist - abgesehen von dem Sadismus der Tat: ein derartiges Vorgehen ist technisch absurd. Warum sollte man einen Körper operieren, der zuckt und bebt, während eine Anästhesie die Bewegungslosigkeit garantiert hätte, die für eine saubere Arbeit notwendig ist?«
Ich wechselte die Richtung. »Glauben Sie«, fragte ich, »daß ein Bulgare ein derartiges Verbrechen hätte begehen können?«
»Auf keinen Fall.«
»Und was ist mit der angeblichen Abrechnung zwischen verfeindeten Sippen, wie es in der Zeitung stand?«
Djuric zuckte die Achseln und stieß eine Rauchwolke aus.
»Lächerlich. Viel zu raffiniert für die Roma. In ganz Bulgarien bin ich ihr einziger Arzt. Außerdem fehlt das Motiv! Ich habe Rajko gekannt. Er lebte in völliger Reinheit.«
»Reinheit?«
»So sagen wir. Das bedeutet: nach Art der Roma. Er lebte genau so, wie ein Roma leben soll. In unserer Kultur wird der Alltag durch einen rigorosen Verhaltenskodex geregelt, ein System aus Regeln und Verboten, in dem die Reinheit ein zentraler Begriff ist. Rajko hat unsere Gesetze streng eingehalten.« »Es gab also nicht den geringsten Grund, Rajko zu töten?«
»Nicht den geringsten.«
»Kann es nicht sein, daß er irgendeine gefährliche Entdeckung gemacht hat?«
»Was hätte er entdecken sollen? Rajko hat sich doch nur für Pflanzen und Vögel interessiert.«
»Eben.«
»Sie denken an Ihre Störche? Unsinn. In keinem Land der Welt bringt man einen Menschen wegen ein paar Vögeln um. Und vor allem nicht auf diese Weise.«
Damit hatte Djuric natürlich recht. Dieser schreckliche Ausbruch von Gewalt paßte nicht zu den Störchen. Viel eher konnte man sich einen Zusammenhang mit den Fotografien von Max Böhm und dem Geheimnis um sein Herz vorstellen. Djuric fuhr sich mit der Hand durch seine silbern schimmernde Mähne, die wie die künstlichen Haare einer Puppe wirkte. Seine Schläfen waren feucht von Schweiß. Er leerte sein Glas und setzte es hart auf den Tisch: ein Zeichen, daß unsere Unterredung beendet war. Ich wagte dennoch eine letzte Frage:
»War das Team von Monde Unique im April in der Gegend?«
»Ich glaube ja.«
»Diese Leute verfügten durchaus über die nötige Ausrüstung.«
»Sie verfolgen eine falsche Fährte, Antioche. Die Leute von Monde Unique sind hoch anständig. Sie haben keine Ahnung von den Roma, aber sie sind sehr engagiert. Behalten Sie Ihre Verdächtigungen lieber für sich - das macht nur böses Blut.«
»Was ist Ihre persönliche Meinung?«
»Der Mord an Rajko ist ein absolutes Rätsel. Kein Zeuge, keine Spur, kein Motiv. Ganz zu schweigen von der technischen Perfektion. Nach der Autopsie habe ich das Schlimmste vermutet. Ich dachte an einen rassistischen Anschlag, der vor allem den Zigeunern galt. Ich dachte, die Zeiten der Nazis seien wieder ausgebrochen, und rechnete mit weiteren Verbrechen. Aber nein. Seit April ist nichts geschehen. Weder hier noch irgendwo sonst auf dem Balkan. Darüber bin ich natürlich erleichtert. Und habe beschlossen, diesen Mord auf unserem Gewinn- und Verlustkonto zu verbuchen.
Vielleicht halten Sie mich für zynisch. Aber Sie haben keine Ahnung vom Alltag der Roma. Unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart, unsere Zukunft bestehen nur aus Verfolgungen, Feindseligkeiten, Übergriffen, Verleugnung. Ich bin viel herumgekommen, Antioche. Überall bin ich demselben Haß, derselben Furcht vor den Nomaden begegnet. Ich
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