Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
andere List ausdenken, um ihre Neugier zu befriedigen.
Kurz darauf verließen sie die Bar und spazierten auf dem hölzernen Gehweg entlang, der sie unweigerlich zum Hafen und zur Raven führte. Die Mädchen baten, an Bord gehen zu dürfen, und Charmaine erlaubte es ihnen gern. Vielleicht würde sie ja sogar Kapitän Wilkinson wiedersehen. Was würde er denken, wenn sie am Arm von John Duvoisin über das Schiff spazierte? Ob er sich überhaupt an sie erinnerte?
Mit gemischten Gefühlen ging sie über die Gangway. Seit sie die Harringtons zum Schiff nach Virginia gebracht hatte, hatte sie kein Schiff mehr betreten. Das lag jetzt ein Jahr zurück. Ein ganzes Jahr! Wie viel war seitdem geschehen, und wie sehr hatte sie sich verändert!
Auf dem Schiff herrschte verschlafene Ruhe. Nach Johns Angaben wartete die Raven nur noch auf die Melassefässer der Zuckerernte, bevor sie nach New York ablegte. Da bis dahin nichts zu tun war, hatte der Kapitän sein Schiff verlassen und die Mannschaft beauftragt, in seiner Abwesenheit die Decks zu scheuern und zu kalfatern, die Masten zu teeren und die zerrissene Leinwand der Segel zu flicken.
Übermütig rannten die Zwillinge zwischen den arbeitenden Matrosen hinüber zur Steuerbordseite. Dort beugten sie sich weit über die Reling und versuchten, eine der Möwen zu fangen. Dann kletterten sie auf das Vorderdeck empor und bewunderten ihre Umgebung aus luftiger Höhe.
Inzwischen schlenderten John und Charmaine über das Deck und blieben stehen, sobald es etwas zu sehen gab oder sie Pierre etwas Interessantes zeigen konnten. Die Männer grüßten John respektvoll, und er nickte ihnen zu. Auf dem Achterdeck zog er eine Kiste für Pierre unter das Ruder. Charmaine lehnte sich an die Reling und beobachtete, wie er dem kleinen Mann erklärte, wie man das große Rad bewegte und das Schiff steuerte. Auch wenn John sein Erbe oft verleugnete, so war er doch unverkennbar stolz darauf, ein Duvoisin zu sein.
»Jetzt bin ich dran!«, verlangte Pierre und spielte den Steuermann. Dabei ließ er schmatzende Geräusche hören, als ob Wasser gegen das Schiff schwappte, während er es aus dem Hafen manövrierte.
John tätschelte dem Jungen den Rücken und ging dann zu Charmaine, die wegen seiner zärtlichen Gesten leise vor sich hinschmunzelte. »Worüber freuen Sie sich?«
»Über Sie. Sie werden einmal ein guter Ehemann.«
Jetzt musste er lächeln. »Warum sagen Sie das?«
Verlegen berichtigte sie sich. »Ein guter Vater , wollte ich sagen.«
»Ich fürchte, dieser Weg ist mir verschlossen.«
»Aber Sie verstehen sich so gut mit Kindern.« In ihrer Begeisterung entging ihr die Veränderung seiner Stimmung. »Sie könnten doch eine Menge Kinder haben.«
»Haben Sie meinen schlechten Einfluss vergessen?«
»Was das angeht, so habe ich mich gründlich geirrt. Sie überschütten Pierre und die Mädchen mit so viel Liebe, wie ich das keinem Mann jemals zugetraut hätte.«
Er zwang sich zu einem Lächeln, sagte aber nichts.
»Es tut mir leid …«, murmelte sie. »Jetzt habe ich Sie beleidigt.«
»Nein, my charm . Zwar schätze ich Ihre Anerkennung, aber Sie irren trotzdem. Als Vater bin ich bestenfalls ein jämmerlicher Ersatz.« Als sie widersprechen wollte, kam er ihr zuvor. »Zum Glück habe ich Pierre und meine Schwestern.«
»Die Kinder werden Sie vermissen, wenn Sie wieder fortfahren.« Sie erschrak darüber, wie sehr ihr Herz plötzlich schmerzte.
»Dazu kommt es ja vielleicht gar nicht.« Sein Blick schweifte über die Halbinsel. »Ich habe durchaus vor, noch eine Weile hierzubleiben. Bevor ich nach Charmantes gekommen bin, war mir gar nicht bewusst, wie einsam ich in Richmond und in New York lebe.«
»Wirklich?«
»Es sei denn, mein Vater erlaubt mir, dass ich die Kinder für einen Besuch nach Richmond mitnehme.«
»Wollen Sie ihn darum bitten?«
Er sah sie eindringlich an. »Würden Sie denn mitkommen, wenn mein Vater einverstanden wäre? Die Kinder brauchen Sie unbedingt. Vor allem Pierre. Außerdem könnten Sie Ihre Freunde besuchen.«
Das klang so hoffnungsvoll und begeistert, als ob sein Glück von ihrer Zustimmung abhinge. Doch so blitzschnell wie Quecksilber änderte sich seine Stimmung. Mit spöttischem Lachen wischte er den Gedanken beiseite. »Keine Sorge, Charmaine, wir reisen nirgendwohin. Die Antwort meines Vaters kenne ich bereits – warum also sollte ich ihn fragen?«
Sie schwieg bedrückt, weil er recht hatte.
Kurz darauf verließen sie die Raven und
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