Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Insel durchaus vertraut, liebe Agatha. Paul und ich warten im Dulcie’s auf die Rückkehr des Wagens.«
Der Wagen fuhr an, und Frederic drehte sich zu seinem sichtlich verwirrten Sohn um. »Machst du dir etwa Sorgen, dass ich in schlechte Gesellschaft geraten könnte?«
Paul lachte. »Wirklich nicht, aber die letzten Tage waren lang und anstrengend. Du musst müde sein …«
»Ich bin immer noch der Herr dieser Insel«, fiel ihm sein Vater ins Wort. »Ich will erfahren, was in unserer Abwesenheit geschehen ist, und was eignet sich dazu besser als das Getratsche in einer Bar?«
Der Lärm im Dulcie’s drang bis hinaus auf den Gehweg: schrille, rhythmische Musik und dazwischen das brüllende Gelächter der Matrosen, das übermütige Kreischen der Mädchen und das Geräusch des Glücksrads, das die Spieler an die Spieltische lockte.
Müde und erschöpft betrat George Richards die Bar und freute sich auf ein kaltes Ale. Eine lange und anstrengende Woche lag hinter ihm: zuerst die Ernte des Zuckerrohrs und danach das Verladen der Fässer. Die Raven hatte erst spät am Nachmittag ablegen können, und unmittelbar danach hatte er beim Festmachen des neuen Schiffs geholfen. Anschließend war er zur Sägemühle geritten und hatte sich davon überzeugt, dass alles zur Zufriedenheit lief. Trotzdem war er froh, wenn Paul wieder da war. Die Arbeit auf Charmantes war für einen Mann allein kaum zu schaffen. John war zwar auf der Insel, doch auf seine Hilfe konnte George nicht zählen, da er ihm schon zu Beginn der Woche mitgeteilt hatte, dass Paul für die Unternehmungen ihres Vaters auf Charmantes zuständig war und nicht er. Folglich war alles an ihm hängen geblieben.
Er drehte sich mit seinem Barhocker herum und sah, wie einer der Seeleute ein Barmädchen in seine Arme zog und sie unwirsch reagierte, als er nicht sofort die geforderte Münze herausrückte. Obgleich der Mann fester zupackte, stieß ihn die Frau so heftig gegen die Brust, dass sein Hocker kippte. Anschließend klatschte sie in die Hände und erklärte seinen Kumpanen hochnäsig: »Wer nicht bezahlt, wird nicht bedient.« Mit diesen Worten schlenderte sie zu einem anderen Tisch hinüber, auf dem sich der Münzenberg in der Mitte soeben verdoppelt hatte. George musste lächeln, als das Mädchen sich an die Schultern des Mannes lehnte, der als Nächster an der Reihe war. Aber der schob sie unwillig zur Seite, was nur heißen konnte, dass er verlor. Während George seinen Humpen an die Lippen hob, sah er zu, wie die Frau langsam den Tisch umkreiste. Er nahm einen langen Schluck – und im nächsten Augenblick prustete er das Ale in einem Hustenanfall quer über den Tisch.
Inmitten der Spieler saß Yvette Duvoisin und presste die Spielkarten fest gegen ihre Brust. Sie saß mit dem Rücken zur Tür und sah in den abgerissenen Sachen wie ein Gassenkind aus. Genau wie ihre Schwester, die schüchtern neben ihr stand und an diesem Ort ganz offensichtlich nichts verloren hatte.
George sprang vom Hocker und war Sekunden später am Tisch. »Was, zum Teufel, habt ihr hier verloren, Yvette?«, brüllte er.
Das Mädchen erholte sich rasch von seinem Schreck und reckte trotzig das Kinn empor. »Ich spiele Poker – Five Card Draw, um genau zu sein. So heißt das doch, oder?«, fragte sie in die Runde.
Allgemeines Gemurmel, man wartete auf ihr Gebot.
»Ich erhöhe um zehn«, verkündete Yvette und stapelte die Münzen aufeinander, bevor sie den Turm in die Mitte des Tischs schob.
George packte das Mädchen am Arm und zog sie auf die Füße. »Das Spiel ist aus! Wirf die Karten auf den Tisch! Wir gehen nach Hause.«
»Ich denke nicht daran!« Yvette riss sich los. »Ich gehe erst, wenn das Spiel zu Ende ist. Ich habe zehn Dollar gewettet.«
Wegen Georges Wutanfall war Yvette ein wenig verunsichert, drückte die Karten aber weiter fest gegen ihre Brust.
»Immer mit der Ruhe, mein Freund«, fuhr einer der Spieler auf. »Lassen Sie die kleine Lady in Ruhe! Sie kann sehr gut auf sich selbst aufpassen, hat eine Menge gewonnen. Das würden wir gern zurückgewinnen …«
Ungläubig starrte George ihn an. Offenbar waren die Männer neu auf Charmantes, gehörten vermutlich zur Besatzung des neuen Seglers und hatten keine Ahnung, wer Yvette war. Ihre schlampige Kleidung ließ ebenfalls keine Schlüsse zu. Trotzdem war das Mädchen deutlich zu jung. »Seid ihr denn alle verrückt geworden?«, brüllte er in die Runde. »Sie ist gerade einmal neun Jahre …«
»Jetzt halt
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