Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
spazierten die Hauptstraße entlang. Charmaine spürte die Blicke der Leute und war stolz, dass John an ihrer Seite ging. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie sich noch vor den missgünstigen Spekulationen der Inselbewohner gefürchtet. Doch heute war das anders. Sie hatte John lange Unrecht getan, aber heute war sie zum ersten Mal froh, dass sie ihn kannte.
Freitag, 6. Oktober 1837
Das Lachen der Kinder schallte über den See, während die nachmittägliche Brise Charmaines Haar erfasste und einige Strähnen unter ihrem Hut hervorzerrte. Die kleinen Löckchen umrahmten ihr Gesicht. Sie ahnte nicht, welch hübsches Bild sie abgab, als sie dort am Ufer auf der Decke saß. Lächelnd sah sie zu John hinüber, der ungefähr hundert Fuß von ihr entfernt in Pierres Ruderboot saß und, den Jungen auf dem Schoß, so tat, als ob Pierre seine Schwestern zur Mitte des Sees ruderte. Schließlich trieb das Boot langsam über das Wasser, und John beugte sich hinunter und nahm die Angeln, die er beim Einsteigen achtlos ins Boot geworfen hatte. Charmaine konnte nur Bruchstücke ihrer Unterhaltung hören, aber anhand der Gesten war schnell klar, dass sich die Leinen verheddert hatten. Sie hatte ihn gewarnt, doch wegen der Aufregung der Kinder hatte er kaum zugehört. Nun musste er büßen, indem Yvette an dem einen Ende und Pierre am anderen zerrte. Ihr fröhliches Lachen erstickte, als das Boot plötzlich wie wild schaukelte. Aber John brachte es mit weit ausgestreckten Armen wieder ins Gleichgewicht und drohte Yvette mit dem Finger. Charmaine schmunzelte und war heilfroh, dass sie nicht mit ins Boot gestiegen war. Dort, wo sie saß, war sie in Sicherheit. Irgendwann waren die Angeln ausgeworfen, und als sich keiner mehr bewegte, blieb ihr endlich Zeit, sich in der Gegend umzusehen.
Sie befanden sich auf einer idyllischen Lichtung am Rand eines Süßwasserspeichers. Vor mehr als siebzig Jahren hatten Johns Großvater und fünfzig Männer einen kleinen See zu diesem Speicher erweitert. Sie war überrascht, als sie keine fünfzig Yards hinter dem Haus in den Pinienwald einbogen und nach kaum zehn Minuten Fußweg vor diesem See standen. Bis auf ein kleines Haus und den schmalen Steg war die Natur unberührt.
Charmaine holte tief Luft. Im Augenblick staksten zwei Flamingos am Ufer entlang. Ein so wunderbarer See und so nahe beim Haus … Sie dachte an das Picknick am Strand und an das erste oberhalb der Klippen. Durch John hatte sie die ganze Schönheit von Charmantes kennengelernt. John. Wieder wanderten ihre Blicke zu seiner Gestalt. Wie oft war das während dieser Woche geschehen? Sie dachte an den weiten Weg, den sie in den vergangenen zwei Monaten zurückgelegt hatten – und ahnte nicht, dass die Reise soeben erst begonnen hatte.
Es war schon spät, als die Falcon im Licht des Halbmonds mit gerefften Segeln in die Bucht von Charmantes einlief. Wortlos und aufrecht stand Frederic an der Reling. Die Raven war verschwunden, und an ihrer Stelle hatte ein fremdes Schiff am Kai festgemacht. Doch Frederic konnte sich nicht freuen. Was geschehen war, war geschehen. Was er zu Beginn dieser Woche in Gang gesetzt hatte, hatte sich vollendet. Ob er seinen Sohn jemals wiedersehen würde? Er versuchte, den Kloß hinunterzuschlucken, der ihm die Kehle verschloss und jedes Wort unmöglich machte.
»Vater, wir können jetzt an Land gehen.«
Frederic vermied es, seinen Sohn anzusehen. »Geh du voran.« Er hustete.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis man einen Wagen aus dem Stall herbeigeschafft hatte und das Gepäck verladen war. In der Zwischenzeit nahm Frederic den neuen Handelssegler in Augenschein.
»Das ist die Wanderlust «, bemerkte Paul und schlug voller Stolz gegen das Holz. »Das erste Schiff unserer neuen Flotte. Einhundertfünfzig Fuß feinster weißer Eiche, die die Staaten zu bieten haben. Morgen Vormittag werde ich den Kapitän aufsuchen. Möchtest du mich begleiten und das Schiff genauer ansehen?«
Verwundert sah Paul Frederic nach, als dieser wortlos kehrtmachte und davonhinkte. Während der letzten fünf Tage hatte sein Vater großes Interesse an allem gezeigt und seine Begeisterung nicht verborgen. Und nun das. Offenbar war er erschöpft.
Frederic lehnte es ab, den für ihn bestimmten Platz neben Agatha und der Dienerschaft einzunehmen. »Der Wagen ist mir zu voll. Fahrt ihr schon voraus. Ich warte im Dulcie’s.«
Agatha widersprach. »Aber das Dulcie’s ist doch …«
»Mir sind die Etablissements meiner
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