Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
flüsterte sie und sah auf ihre Hände hinunter.
»Ich kann auch gern mit Mrs. Faraday sprechen, falls Sie das möchten.«
Verblüfft starrte sie ihn an. »Woher wissen Sie …«
»Ich wusste es nicht, jedenfalls nicht sicher. Aber so, wie sie mich heute Morgen angesehen hat, als ich verbot, Sie zu stören … nun gut, ich habe meinen Fehler sofort bemerkt. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Charmaine, sie wird Paul nichts sagen. Und falls doch, so kann das nur zu Ihrem Vorteil sein.«
Charmaine ärgerte sich zwar, doch als sie das Glitzern in seinen Augen bemerkte, biss sie sich auf die Zunge.
»Ein bisschen Eifersucht wirkt manchmal Wunder, um meinen Bruder herumzukriegen.«
»Um ihn herumzukriegen?«
»Zum Heiraten, Charmaine. Das ist doch Ihr geheimer Wunsch, oder nicht?«
Schweigend blickte sie über die Wiese und die Koppeln. John wartete und sah sie dabei lange an. Dann ließ er das Thema fallen. »Was fangen wir jetzt mit dem Rest des Tages an? Wie wäre es mit einem kleinen Ausflug in die Stadt?«
»Sie könnten auch für mich Klavier spielen … und für die Kinder natürlich auch.«
Er lächelte, als ob er ihr ein Geständnis entlockt hätte, aber dann winkte er ab. »Sie spielen jeden Tag für die Kinder. Es gibt sicher noch etwas anderes …«
»Aber ich spiele nicht annähernd so gut wie Sie. In der vergangenen Nacht habe ich begriffen, warum Sie …«
»Warum ich Ihre Fähigkeiten kritisiert habe?«
Sie schwieg.
»Sie spielen wunderschön, Charmaine, und ich höre sehr gern zu, wenn die Kinder zu Ihrer Begleitung singen. In den ersten Tagen muss ich Ihnen wie ein Monster erschienen sein, aber ich habe Sie falsch eingeschätzt. George hat versucht, mich von meinem Irrtum zu überzeugen, und Paul auch, aber ich wollte es nicht glauben. Vielleicht, weil es von meinem Bruder kam.«
»Warum ist das so? Warum trauen Sie einander nicht? Warum streiten Sie in einem fort?«
»Dafür gibt es mehrere Gründe. Die meisten haben mit meinem Vater zu tun.«
»Sind Sie wütend, weil er Ihrem Bruder die Insel Espoir geschenkt hat?«
»Nein. Wütend bin ich nicht, zumindest glaube ich das.«
Charmaine runzelte die Stirn. »Oder ärgert Sie seine Begeisterung für Pauls Arbeit? Sicher haben Sie in Virginia auch Projekte, die Anerkennung verdienen.«
»Wenn mein Vater von meinen Fortschritten in Virginia wüsste, würde er Paul vermutlich auch dort mit der Leitung betrauen.«
Die spöttische Bemerkung musste sie erst verdauen. »Es bedeutet Kindern sehr viel, wenn die Eltern sich für ihre Fortschritte interessieren. Ich weiß, was es heißt, nie gelobt und nur missachtet zu werden.«
»Sie wurden missachtet?«
»Ja, von meinem Vater.«
»Wie es aussieht, haben wir einiges gemeinsam, my charm .« Er schwieg eine Weile. »Was ist mit Ihrer Mutter geschehen?«
Charmaine musste die Luft anhalten. Selbst nach zwei Jahren war die Erinnerung noch immer schmerzlich. Seltsam, aber zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, als ob sie die Wahrheit nicht länger geheim halten müsste. Mit John konnte sie darüber reden. Er würde sie verstehen.
»Mein Vater war tagaus, tagein betrunken und hat meine Mutter so schrecklich verprügelt, dass sie daran gestorben ist. Danach ist er verschwunden, und seitdem hat ihn niemand mehr gesehen.« Ohne Vorwarnung stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Es war alles meine Schuld.« Aufschluchzend wandte sie ihr Gesicht ab.
»Ihre Schuld?«
»Ja. Ich habe ihm meinen Lohn verweigert. Mein Vater war ein Taugenichts, der nur selten gearbeitet hat. Und wenn, dann hat er seinen Lohn in Schnaps umgesetzt. Meistens hat meine Mutter ihm Geld geben müssen. Als die Harringtons mich eingestellt haben, wollte er auch meinen Lohn. In einer Nacht hat er sich besonders viel Mut angetrunken und wollte meinen Lohn bei den Harringtons kassieren. Als er nichts erreicht hat, hat er sich über meine Mutter hergemacht, weil er glaubte, dass sie meinen Lohn vor ihm versteckte. Wenn ich ihm mein Geld gegeben hätte, hätte er sie vielleicht nicht angerührt.«
»Trotzdem war es nicht Ihre Schuld, Charmaine. Es gibt keine Entschuldigung dafür, eine Frau zu prügeln«, sagte er verächtlich. »Ich kenne eine Menge solcher Männer. Wenn es nicht ums Geld gegangen wäre, hätte es einen anderen Grund gegeben. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen.«
Seine ruhigen Worte trösteten sie. Bis heute hatte sie noch niemandem anvertraut, dass sie sich für den Tod ihrer Mutter verantwortlich fühlte.
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