Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Wahrheit gesagt hätte.«
John war verwirrt. »Dass sie mir was gesagt hätte?«
Unbehaglich sah Frederic kurz zu Charmaine hinüber, aber dann sprach er weiter. »Als Colette nach Charmantes kam, fühlte ich mich von ihr angezogen.« John schnaubte ungehalten, aber Frederic ignorierte ihn. »Doch ich habe ihre Koketterie missdeutet und sie eines Abends verführt.«
»Das glaube ich nicht!«, fuhr John auf. Ein flüchtiges Bild schoss ihm durch den Kopf, als Colette einmal mit seinem Vater geflirtet hatte, und vergiftete sein Inneres. »Verführt oder vergewaltigt?«, fragte er mit hohler Stimme.
Totenstille breitete sich aus. Je länger die Antwort auf sich warten ließ, desto bleicher wurde John, bis seine Erinnerung schließlich einer hässlichen Wahrheit Platz gemacht hatte. »Du hast sie dazu gezwungen! Du sollst zur Hölle fahren! Colette war rein und unschuldig … und du hast sie vergewaltigt!«
Er stürzte sich auf seinen Vater, doch Charmaine warf sich dazwischen und packte seine Arme. »Nein, John! Hören Sie auf! Auf diese Weise ändern Sie gar nichts! Hören Sie auf!«
Der drängende Appell verfehlte seine Wirkung nicht. John sah auf die Hände hinunter, die ihn festhielten, dann auf Charmaines verzweifeltes Gesicht. Dann sah er sich um, doch sein Vater war wie ein geschlagener Mann auf dem Sessel zusammengesunken und hielt den Kopf gesenkt.
John trat einen Schritt zurück. Als Charmaine ihn losließ, ergriff er eine ihrer Hände und zog sie aus dem Zimmer und weiter durch den Korridor, ohne die Versammlung vor der Tür überhaupt wahrzunehmen.
Als Nächstes bemerkte Charmaine, dass sie sich im Kinderzimmer befanden. Den Leichnam hatte man inzwischen fortgebracht. Die Glastüren standen offen, um die frische Brise hereinzulassen und die dunklen Erinnerungen an die letzten Tage zu tilgen. Alles war so aufgeräumt und sauber, als ob die Klarheit dem Aufruhr in ihrem Inneren spotten wollte.
John lehnte sich gegen den offenen Türrahmen und starrte auf die Wiese hinunter. Schließlich ergriff Charmaine das Wort: »Ihr Vater hat überhaupt nicht vor, die Mädchen nach England zu schicken. Er hat mich auch nicht zu sich gerufen, weil er mich entlassen wollte.«
John sah über die Schulter zurück. »Sie hätten dem allen nicht ausgesetzt werden dürfen.«
»Ich hätte das Zimmer verlassen sollen.«
Aber John hörte nicht zu. »Vergewaltigung«, stieß er hervor. »Aber warum? Hat er mich so sehr gehasst? Oder ist er einfach nur böse? Nie wäre ich in all den Jahren auf die Idee gekommen, dass Colette mich deshalb verlassen hat. Mein Gott! Ich habe ihr so oft Unrecht getan, sie bestraft, und doch hat sie mich geliebt. Weil sie wusste, dass mich die Eifersucht zerfressen hätte, hat sie mir nie die Wahrheit gesagt. Warum nur ließ sie mich das Schlimmste denken – dass sie das Geld der Duvoisins mir vorgezogen hätte und dass sie die Schuldige sei?«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Colette zuerst kennengelernt haben. Waren Sie tatsächlich verlobt?«, fragte Charmaine.
Sie wartete, während er stumm nach draußen starrte. Als er endlich zu sprechen begann, entfaltete sich die ganze Geschichte.
»Im Jahr 1827 gingen George, Paul und ich in Frankreich auf die Universität. Wir waren damals wilde Gesellen – zumindest ich.« Er lachte in sich hinein. »Wir hatten kaum Zeit für die Bücher, dafür umso mehr fürs Trinken. Das Frühjahrssemester war zur Hälfte vorbei, als ich die junge Frau kennenlernte, die Paul von einer Soirée zur nächsten schleppte. Sie war sehr hübsch«, flüsterte er träumerisch, »und in der Sekunde, als sie ihr aristokratisches Näschen rümpfte, wollte ich sie besitzen. Was schwieriger war als ich gedacht hatte. Kaum dass ich sie von meinem Bruder weggelockt hatte, merkte ich, dass sie, obwohl sie sich weltgewandt gab, in Wahrheit ein anständiges, unschuldiges Mädchen war. Aber da war es zu spät. Ich hatte mich längst in sie verliebt. Und sie sich in mich, wie ich glaubte. Was dann kam, war Folter. Da es mir nicht gelang, sie zu verführen, war klar, dass ich sie heiraten musste. Zugegeben, ich war jung. Aber wenn eine Frau mit siebzehn Jahren heiraten durfte, dann waren neunzehn Jahre für einen Mann durchaus zu vertreten.
Doch ihre Mutter war dagegen. Als Schwiegersohn war ich der Lady nicht willkommen, aber dank eines redseligen Freundes erfuhr sie vom Vermögen unserer Familie und dass ich der Erbe war und nicht der liebe Paul, wie sie anfangs geglaubt
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